Im Jahr 2008 lud der Verein zur Förderung der freiwilligen sozialen Dienste anlässlich seines 40jährigen Bestehens zu einem Festakt ein. Auch ich war damals als Verantwortlicher des „Freiwilligen Sozialen Jahres“ bei assista Soziale Dienste dazu eingeladen, auch um aus dem praktischen Alltag aus der Sicht einer Sozialeinrichtung zu erzählen um den geladenen PolitikerInnen und zahlreichen Gästen einen Einblick darüber zu gewähren.
Nach mir richtete der Linzer Buch- und Theaterautor wie auch Supervisor Thomas Baum sein Wort an die Festgäste. Gerade im Hinblick auf die aktuelle Covid-19 Situation und die damit gegebene Überlastung des Pflegepersonals speziell in den Intensivstationen, habe ich mich an seine damalige Rede erinnert und ihn gebeten, mir zu gestatten, dass ich diese auf unserer Website veröffentliche, was er auch gleich gerne getan hat. Wie eingangs erwähnt: Das war vor 13 Jahren!
Brennen statt Verbrennen – Aspekte der Psychohygiene
Verehrte Damen und Herren, vor Ihnen steht ein sogenannter Fall. Zwar nicht gerade ein hoffnungsloser, aber in mancher Beziehung bin ich jemand, der sich selbst gerne ein Haxl stellt und übers Ohr haut, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit wider besseres Wissen handelt, ganz nach dem Motto: „Wer sich selbst eine Grube gräbt, der fällt wahrscheinlich auch hinein.“
Nehmen wir nur den heutigen Vortrag. Bereits im Frühjahr wusste ich, dass sowohl im heurigen Sommer als auch im Herbst ein Arbeitsaufwand auf mich zukommen sollte, den ich nur mit höchstem Einsatz bewältigen würde. Und ich verordnete mir für alle zusätzlichen Anfragen, insbesondere den Herbst betreffend, ein striktes Nein. Als Supervisor, der immer wieder mit Burn-Out-Gefährdeten zu tun hat, rate ich gerne dazu, sich dieses Nein ganz fett in den Kalender einzutragen. Ich empfehle Menschen, sich nicht zuviel zuzumuten, sich langsamere Zeiten zu vergönnen, auf die eigene Psychohygiene zu achten. Ich versuche, Menschen darin zu unterstützen, rechtzeitig und gezielt Nein zu sagen.
Damit kein falscher Verdacht aufkommt: hin und wieder befolge ich meine Tipps auch selber. Und – Zeugen können es bestätigen – ich hatte bereits abgesagt. In einer Phase hohen Abgabedrucks in meinem zweiten Beruf als Autor. Aber dann kam eine kurze Erholungspause. Entspanntes, gemächliches Arbeiten. Ausreichend Zeit. Innere Ruhe. Einerseits herrlich, andererseits brandgefährlich. Gute Zeiten verleiten nicht nur mich zu einem verschwenderischen Umgang mit meinem Kräftehaushalt. Da sage ich gerne Ressourcen zu, die ich später, wenn sie in zwei, drei Monaten fällig sind, nur mehr teilweise oder sogar kaum mehr zur Verfügung habe. Man könnte sagen, dass es mir in solchen Zeiten an Weitblick fehlt.
Es kam also zu weiteren Gesprächen, und dann rutschte mir ein Ja heraus, das, kaum ausgesprochen, nicht mehr rückgängig zu machen war, obwohl ich in der Sekunde wusste, dass ich Ende Oktober gehörig unter Druck sein würde.
Was hatte mich verführbar gemacht, meine mir selbst gesetzten Schranken derart zu vernachlässigen? Erstens meine latente Tendenz, mir selber zu viel zuzumuten. Und zweitens eine Art Verpflichtungsgefühl jenen sehr netten Menschen gegenüber, die ich beim Freiwilligen Sozialen Jahr gut kenne. Drittens das angenehme Gefühl, gebraucht zu werden. Damit sind wir mitten im Thema. Was würde der Supervisor in mir zu mir als Supervisanden sagen? Du gehst zu fahrlässig mit deinen eigenen Ressourcen um. Das führt dich zu Aussagen wie „Das krieg ich schon hin“, „das wird schon irgendwie gehen“, „das schaffe ich schon“. Deine Loyalität zu anderen Personen, Gruppierungen und Organisationen kann dich dazu bringen, das Eigene zu weit hinter das Andere zu stellen. Es kann dazu führen, dass du für die größere Aufgabe die kleinere, nämlich gut auf dich zu schauen, vergisst. Kennst du den Song Nanananana der steirischen Altherrenpopgruppe STS? Soll ich dir zwei Zeilen zitieren? „Immer nur nett und freundlich als wie und immer nur Ja und Amen – ist der beste Weg zum Magengeschwür und zu festen Psychodramen…“
Und nun zu diesem bekanntermaßen mehrschneidigen Gefühl „gebraucht zu werden“. Das kann dich allzu schnell davon ablenken, dass es noch jemanden gibt, der deine Zeit, deine Aufmerksamkeit und dein Wohlwollen nötig hätte. Du kennst ihn schon ganz schön lang, bist mit ihm sogar per Du, verbringst viele Stunden mit ihm, kann sein, dass du gerade deshalb allzu leicht auf ihn vergisst. Ich verrate dir auch seinen Namen: Thomas. Thomas Baum. Schon einmal von ihm gehört? Ja? Dann ist es ja gut.
Hätte ich mich also eingehend von mir selbst beraten lassen, stünde ich womöglich jetzt nicht hier. Dann könnte ich mir jetzt nicht als lebendes Beispiel für mangelnde Psychohygiene dienen. Insofern ist es wieder gut, dass ich damals keinen Termin bei mir bekommen habe.
Aber wie es nun einmal so ist, wer Ja sagt, hat auch B zu sagen. Und selbstverständlich habe ich mich sehr gerne auf diese Jubiläumsfeier eingelassen. Denn in ihrem Zentrum steht ebenfalls ein Ja. Und zwar ein sehr bedeutendes, wichtiges und schätzenswertes. Ein Ja zur Freiwilligkeit. Und zu einem Jahr sozialer Tätigkeit.
Dass sich junge Menschen heute, im Jahr 2008, zu einer freiwilligen und noch dazu sozialen Leistung entscheiden, und das mit der Aussicht auf eher mäßige Bezahlung, ist eigentlich ein kleines Wunder. Wäre es nicht viel vernünftiger, schon vor der Volljährigkeit eine Ich-AG zu gründen und alle Energie in die eigene Marke zu investieren? Verlangt der freie Markt nicht danach, möglichst früh an einem verkaufbaren Profil zu feilen? An der Eigen-PR, einer markanten Persönlichkeit und geldorientierter Effizienz? Wo doch schon in den Schulen eifrig an der Funktionstüchtigkeit der zukünftigen Erwachsenen gebastelt wird, weil die freie Marktwirtschaft tüchtige Kräfte braucht … zur Pulsbeschleunigung der Finanzkreisläufe? Die Schul- und Bildungspolitik unterstützt diese Tendenz nach besten Kräften, indem sie musische und kreative Fächer kürzt, auch Unterrichtsgegenstände mit sportlichem Schwerpunkt werden eingeschränkt, weil im Vordergrund der gründliche Erwerb marktkonformer, marktvorantreibender Fähigkeiten zu stehen hat. Ob auch soziales Lernen stattfindet und soziale Kompetenzen erworben werden können, ob Kritikfähigkeit, Gestaltungskraft und gesellschaftspolitische Werte gelehrt oder gelernt werden, hängt vielfach vom Engagement der jeweiligen Lehrer ab.
Aus der engen Perspektive unternehmerischer Karriereplanung fiele das freiwillige soziale Jahr womöglich unter die Kategorie sinnloser Zeitvergeudung. Auch wenn sich der selbst regulierende freie Markt mit den Ereignissen der vergangenen Wochen als allumfassende Heilslehre des neuen Jahrtausends ad absurdum geführt hat. Dennoch: erlaubt unsere rasante Arbeitswelt den jungen Menschen die Verlangsamung ihrer Laufbahn um ein ganzes wertvolles Jahr?
Außerdem … ist das Soziale nicht in Wirklichkeit ein bisschen Out? Die Gutmenschen mit ihren Träumereien von einer anständigeren, gerechteren Welt, in der die Schere zwischen Arm und Reich deutlich weniger weit auseinander klafft, in der prinzipielle Chancengleichheit herrscht, in der Solidarität und Nächstenliebe in der Werteskala über Kapitalvermehrung und Gewinnoptimierung stehen – wirken diese Gutmenschen nicht ein wenig altmodisch und abgehalftert. Merken die denn nicht, dass sich die Prioritäten längst verschoben haben?
Trotzdem, irgendwas muss an diesem Sozialen dran sein. Sonst würden doch nicht so viele junge Menschen ein freiwilliges Jahr damit zubringen und sich danach vielfach für eine Ausbildung und Weiterarbeit in eben diesem sozialen Feld entscheiden. Also, warum fangen so viele Menschen dafür Feuer?
Vielleicht, weil die Arbeit mit Sinn erfüllt. Erfolge sind unmittelbar erfahr- und spürbar, auch wenn es oft nur um kleine, oder sogar nur minimale Schritte geht. Die einmalige oder nachhaltige, kurz- oder langfristige Veränderung, ein Lernschritt, ein Lächeln, ein Nachdenken, eine Bewegung, eine neue Verhaltensweise, zeigen sich nicht abstrakt oder als Teil eines langwierigen Produktionsablaufes, sondern ganz real. Man erlebt, dass man, einmal mehr, einmal weniger, Veränderung bewirken kann. Das Nicht-Gelingen, Scheitern oder die nur momentanen, nicht dauerhaften Erfolge sind natürlich immer inbegriffen.
Ein weiterer Anreiz könnte sein, dass der Einblick in die Welt, in der wir leben, enorm angereichert wird. Man begibt sich ja in Wirklichkeiten, die man vielleicht vorher so kaum wahrgenommen hat. Die einem ungewohnt und fremd sind. Die Begegnung mit diesen Wirklichkeiten kann berühren und begeistern, aber auch abschrecken und frustrieren. Es ist nun einmal ein großer Unterschied, ob man von der Pflegeproblematik liest, oder in einem Altenheim selbst damit befasst ist. Zwischen der Vorstellung des Alltags in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung und dem tatsächlichen Erleben können Welten liegen.
Und man lernt ja nicht nur die zu Betreuenden beziehungsweise Klientinnen, sondern auch die BetreuerInnen kennen. Ihre professionelle Beziehungsarbeit, ihr Balancieren zwischen Nähe und Abstand. Man taucht in Teamstrukturen ein, gewinnt über das Team Einblick in den Umgang mit Systemen, lernt Zugänge und Haltungen kennen, wird mit Begegnungslust und –unlust, mit Begegnungsbegeisterung und Begegnungszynismus konfrontiert. Man wird auf Teams treffen, deren Mitglieder sich als gegenseitige Quelle von Kraft und Wohlbefinden verstehen, während sich andere im mühsamen Hinterfragen vieler Kleinigkeiten üben und sich das Leben eher schwerer als leichter machen. Im besten Fall landet man in Teams, die zwischen diesen Polen eine erwachsene Mitte finden.
Und bei all dem Kennenlernen fällt noch ein Mehrwert an, den wir nicht unterschätzen sollten. Es besteht bei dieser Arbeit für junge Menschen nämlich auch noch die Gelegenheit, sozusagen als echter Bonus, einiges über sich selbst zu lernen. Was macht das oder das mit mir? Wie reagiere ich auf Grund meiner Biografie, meiner Herkunft, meiner Geschichte auf bestimmte Vorgänge oder Ereignisse? Zu welchen Voreingenommenheiten neige ich auf Grund meiner Lebensgewohnheiten, meiner Denkmuster, meiner Überzeugungen. In welchem Rhythmus und welchem Tempo nähere ich mich Situationen und Menschen? Warum macht mich etwas sehr schnell betroffen, warum perlt anderes wieder an mir ab?
Fassen wir die vielen Fragen, die sich hier noch an uns selbst stellen ließen, unter dem Begriff „Selbsterfahrung“ zusammen. Das reflektierte und wagemutige Ausleuchten der eigenen Person. Das Spähen in unangenehme, komplizierte private Winkel. Der ausgiebige und manchmal auch schmerzhafte Blick in den Spiegel, um möglichst genau zu wissen, woran man mit sich selber ist. Damit den potentiellen HelferInnen nur ja nicht das passiert, was Eugen Roth in einem seiner Gedichte beschreibt: „Ein Mensch nimmt guten Mutes an, er hab sein Äußerstes getan, doch leider Gott’s vergisst er nun, auch noch sein Innerstes zu tun“. Es ist nämlich unter anderem die möglichst umfassende Kenntnis unseres Innersten und das möglichst präzise Wahrnehmen innerer Irritationen und Signale, die uns davor bewahren sollen, bis zum Äußersten und auch noch darüber hinaus zu gehen.
Wenden wir uns einem Mann zu, der in jungen Jahren alle Warnungen, dass seine Kräfte begrenzt seien, nahezu heldenhaft in den Wind schlug. Als ich 18, 19 Jahre alt war – und das ist schon einige Zeit her, fragte ich mich nämlich nicht lang nach den Gründen und Motiven hinter meiner damals schon heftigen Begeisterung für die Arbeit mit Menschen. Nein, ohne lange nachzudenken, fühlte ich mich schlicht dazu berufen, einer zu sein, den man einen Helfer nennen könnte. Ein an und für sich sympathischer Zug, aber nicht ganz unbedenklich. Einerseits für den Helfer selbst, andererseits aber auch für die oft nur vermeintlich Hilfsbedürftigen. Helfer, die sich zu sehr berufen fühlen, drängt es ja auch dann zur tätigen Hilfe, wenn diese gar nicht gefragt ist oder kontraproduktiv oder sogar schädlich sein kann.
Ich zog die Bedürftigen jedenfalls an wie ein Permanentmagnet. Glauben Sie mir, das funktioniert. Kaum aktiviert man seine Helferfühler, macht sich die Hilfsbedürftigkeit um einen herum nahezu schneelawinenartig breit. Ich war damals ein gefragter Mann für alle möglichen Probleme. Beziehungs- und Eheschwierigkeiten, Frauen- sowie Männerfragen, diverse Suizidversuche,. ……. ich nahm mich um alles gerne an und unterstützte und half, dass sich die Balken nur so bogen. Und das ließ sich sogar noch steigern, wurde doch durch meiner Ausbildung an der Pädagogischen Akademie mein Interesse an der Psychotherapie nachhaltig geweckt. Ab diesem Zeitpunkt gab es keine Schranken mehr. Meine damalige Freundin wurde mit Ich-Botschaften nur so eingedeckt, ich hörte meiner Verwandtschaft ganz konsequent ausschließlich aktiv zu und entwickelte ein raffiniertes und ausgefeiltes Sensorium für das Aufspüren von Menschen, die ein kleines, mittleres oder sogar größeres Problem mit sich herumschleppten, dem ich möglichst kongruent zu Leibe rücken konnte.
Zu förmlich idealen Betätigungsfeldern entwickelten sich größere Familienfeiern und Treffen mit Freundinnen und Bekannten. Ich sage Ihnen, irgendeinen Wickel, an dem man ein wenig mitstricken kann, gibt es immer und überall. Und ich strickte mit Leidenschaft. Die Wollknäuel, die es zu entwirren gab, flogen mir zu, dass es eine helle Freude war. Eine helle Freude insoferne, als ich mich dabei wichtig fühlte. Wichtig, sinnvoll, hilfreich, klug, beliebt, gebraucht und auch ein wenig mächtig.
Das Geben und Nehmen dürfte sich also durchaus die Waage gehalten haben, unterstützte das Unterstützen anderer meinen Selbstwert doch erheblich. Am Helfen richtete ich mich verlässlich wieder auf. Kennen Sie den Witz vom Psychologen, der in ein Taxi steigt und gefragt wird, wohin er denn wolle? Ganz egal, meint der Psychologe, er werde überall gebraucht.
Ja, das Helfen half mir ganz enorm. Den anstrengenden Teil daran, den nahm ich damals nicht wahr. Warnungen erfahrener, älterer Helfer, dass man den Bogen auch überspannen und es einem dadurch zuviel werden könne, verursachten höchstens ein mildes Lächeln. Was wussten denn die von meiner Power? Nein, nur keine Müdigkeit. Ging es doch darum, nicht nur einzelne Menschen, größere Gruppen und Gesellschaften, sondern auch gleich die ganze Welt zu retten. Inklusive meiner Schülerinnen und Schüler, denen ich als frischgebackener Hauptschullehrer, reichlich geimpft mit Empathieklassikern wie Schwäbisch-Siems, Carl Rogers und Gordon, sehr engagiert gegenübertrat. Als Superversteher sozusagen.
Ich spüre, dass du jetzt aggressiv bist, muss dich aber dennoch bitten, nicht laut herumzuschreien. Kann es sein, dass dich diese Hausübung ungehalten macht? Weißt du, zu wem die Wut, die du jetzt hast, genau gehört? Bereits Ende der ersten Woche herrschte in meiner Klasse ein Lärm, dem meine Stimme, die nicht leise ist, kaum mehr etwas entgegensetzen konnte. Mitte der Woche 2 landete ein Zeichenbrett von ganz hinten nach vor geschleudert an der Tafel direkt neben meinem Kopf. Diesmal hatte ich keine einfühlsame Ich-Botschaft zur Hand. Ich teilte – ganz nach dem Vorbild meiner eigenen Lehrer – eine saftige Strafe aus.
Was ich damals schmerzhaft erkennen musste: Empathie und Akzeptanz sind nicht immer die besten zur Wahl stehenden Mittel. In einem Umfeld, in dem diese Haltungen üblicherweise Mangelware sind, kann sich das „Menscheln“ nämlich gegen den „Menschler“ richten.
Ein paar Lernschritte von damals gelten für mich auch heute noch:
1. Du sollt dich als Helfer nicht überschätzen.
2. Du sollst die, denen du helfen sollst oder willst, nicht unterschätzen.
3. Du sollst durch dein Helfen die Potentiale zur Selbsthilfe nicht schwächen.
4. Du sollst in deinem Beruf nicht so sehr aufgehen, dass du Gefahr läufst, darin unterzugehen.
5. Du sollst nicht die ganze Welt retten wollen. Sie ist dir ein paar Schuhnummern zu groß.
Was ich damals noch viel zu wenig beachtete, sind die Umstände, in denen ich mich bewegte. Das politische, gesellschaftliche, familiäre, beruflich und persönliche Umfeld. Dabei hängt die Wirksamkeit der förderlichen Haltungen zur positiven Gestaltung von Beziehungen, die wir in diversen Ausbildungen lernen, üben und professionalisieren, doch immer auch von der jeweiligen situativen Gegebenheit ab.
Und diese Gegebenheiten können rasant wechseln. Jeder Kunde ist anders aufgestellt, die Problemlagen und persönlichen Hintergründe können sich stark unterscheiden. Dazu kommen Ideologie, Kultur und gesellschaftspolitische Positionierung ihrer Arbeitgeber. Darüber hinaus das organisatorische Umfeld, die verschiedenen Helfersysteme, die miteinander kooperieren, einander aber auch konkurrieren können. Und dann sitzt man als Einzelbetreuer eines problematischen Jugendlichen in einer Helferkonferenz, in der es um den Jugendlichen selbst, die Eltern, die Geschwister, die Schule und womöglich auch noch um Polizei und Gericht geht, und sieht mit einem Mal den Wald vor lauter Bäume nicht.
In diesem Fall plädiere ich für eine Haltung, die ich als Baustellenbewusststein bezeichne. Wenn ich den Eindruck habe, dass es an allen Ecken und Enden fehlt, und dass viel zu viel möglichst gleichzeitig geschehen müsste, dass ich am liebsten sofort zupacken würde, mich aber zugleich eine Art Lähmungserscheinung überfällt … dann hilft es, sich zu fragen, für welchen Teil dieser Baustelle ich denn eigentlich zuständig bin.
Bin ich der Polier, der Installateur, Kranfahrer, Maurer, Fliesenleger? Welchen Teil des großen Jobs habe ich zu erledigen? Für wie viel und für wie wenig bin ich zuständig? Wie wenig kann ich eigentlich tun? Reduktion auf das Wesentliche. Auf den Auftrag. Wo kein Auftrag, da kein Mandat. Und ohne Mandat kann man in Teufels Küche kommen. Es ist hilfreich, möglichst genau zu wissen, für welchen Teil der Baustelle man mit welchem Auftrag tätig ist und sein Handeln darauf zu konzentrieren.
Das soll jetzt keine Absage an ein selbstverständliches Engagement sein, das ja ohnehin an den Tag gelegt wird. Es ist ein Aufmerksammachen auf das viele Unerledigte und Unbewältigte, das einen in den sozialen Feldern immer wieder anspringt. Auf die unzähligen Fäden, an denen wir immer wieder ziehen könnten. Und dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns verzetteln und in einer heftigen Verwirrung landen, und dass wir uns erstens wundern, dass trotz unseres totalen Einsatzes nur wenig bis sogar gar nichts weitergeht, und dass wir uns zweitens in die Gefahr begeben, uns ganz kräftig zu überheben. Und einen emotionalen Hexenschuss oder gar Bandscheibenvorfall zu erleiden.
Sie haben es schon bemerkt, wir sind bei der berühmten „Abgrenzung“ gelandet. Der Helfer besinnt sich im großen Feld der Aufgaben jenes Teils, den er beackern kann und auch beackern soll. Das wird nicht dazu führen, dass jeder Helfer Pflöcke einschlägt, einen Zaun zieht und sich dann schrebergartenähnlich nur noch um Seines kümmert. Es soll den Helfer darin unterstützen, dort Hand anzulegen, wo sich für ihn hoffentlich auch etwas bewegen und bewirken lässt.
Abgrenzung ist auch eine Art Grippeschutz gegen herumschwirrende Emotionen, die sich bei uns, wie wir wissen, virenartig einnisten und für leichte, mittlere und schwere Beeinträchtigungen sorgen können. Da geht man von der Arbeit nach Hause und hat eine Traurigkeit oder eine Wut in sich, zu der einem keine Ursache einfällt, die sich kaum zuordnen lässt, die sich dann vielleicht zu Hause noch als Aggression auf den Lebenspartner entlädt, man landet in einem Streit, den man am Ende nicht versteht, und erst wenn man sich rückbesinnt, auf ein Gespräch mit einem Kunden, eine Situation mit einer Klientin, hat man vielleicht ein AHA-Erlebnis. Aha, diese eigentlich nicht zu mir gehörende Empfindung ist da und dort aufgetreten, hat sich da und dort bei mir eingeschlichen. Dieses Gefühl habe ich von dieser oder jener Person ungefragt übernommen. Quasi importiert. Idealerweise bemerkt man diesen Import, bevor man den Virus weitergibt.
Oftmals werden es die Helfer nicht schaffen, auf der Strecke, die sie zwischen Berufs- und Privatleben zurücklegen, loszuwerden, was sie beschäftigt und belastet. Dann sind hoffentlich Lebens- und Ehepartner, Familie und Freunde bereit, als unbezahlte Supervisoren oder Therapeuten herzuhalten. Wobei berufsfremde Personen oft nicht das beraterische Handwerkszeug, aber immerhin ihren Hausverstand zur Verfügung haben: Hat eine Sozialarbeiterin einen Techniker zu Hause, kann das zu einem handfesten: „Wie man sich denn überhaupt irgendetwas so zu Herzen nehmen kann“ führen. Und die Bankangestellte könnte dem Behindertenpädagogen raten: „Du sollst nicht mehr geben, als du nimmst.“
Klingt sehr lebenspraktisch, nur haben es die Helfer nun einmal nicht mit der Festigkeit von Autokarosserien oder schlecht verzinsten, aber sicheren Staatsanleihen zu tun. Ihr Arbeitsleben spielt sich in der Nähe von Depression, Wut, Schmerz und Ohnmacht ab. Und das Leiden der KlientInnen tropft nicht einfach ab, sondern rührt an und berührt. Und kann in den HelferInnen vergleichbare Erfahrungen und ähnliche Gefühle wecken. HelferInnen pendeln ja immer zwischen der Begegnung mit ihrer eigenen Geschichte und dem Kummer, der Ausweglosigkeit und den Blockierungen ihrer KlientInnen. Und sie gehen mit ihren Wahrnehmungen, Empfindungen und ihrem Denken ständig in die Welt der anderen – hoffentlich ohne sich darin zu verlieren.
Das ist ja eine der größten Kunstfertigkeiten: beim anderen und zugleich bei sich selber zu sein. Den anderen zu spüren und dabei das Gespür für sich selbst nicht zu verlieren. Mit dem anderen zu gehen, ohne dabei den eigenen Weg aus den Augen zu lassen. Leichter gesagt als täglich getan. Kann sein, dass ich nach einem intensiven Supervisionstag mit fünf Fremd- und zwei „Baum“-gefühlen nach Hause gehe und vorerst keine Ahnung habe, wo denn nun was hingehört. Dann erinnere ich mich gerne an die Möwen in dem Animationsfilm „Nemo“ und ihrem sehr bestimmten „Meins!“ Meins, deins, meins, deins.
Dieses „Meins“ ist in „Nemo“ übrigens eine Stelle, die Lachen auslöst. Eine Pointe, ein humorvoller Moment. Erlösend, befreiend, ein Spaß – etwas, das im sozialen Sektor ganz gerne zu kurz kommt. Taufen wir es ein wenig um und nennen es eine Kombination aus Mut, Frechheit und Witz. Dazu passt ein innerer Auftrag, den ich mir in sehr komplizierten und problembeladenen Situationen gerne gebe: „Schauen wir, dass es eine Gaudi gibt.“ Nämlich neben all dem anderen. Schauen wir, dass es neben all dem anderen auch eine Gaudi gibt.
Gaudi steht hier für eine tendenziell eher positive, lustvolle, bewegliche und offensive Arbeitshaltung und Arbeitsatmosphäre. Sie soll uns davor schützen, uns von den Problemen unserer KlientInnen oder von schwierigen Rahmenbedingungen vereinnahmen oder überrollen zu lassen.
Und sie soll uns helfen, Schicksale und Umstände nicht noch ernster zu nehmen, als sie es ohnehin schon sind. Das Komische im Tragischen aufzuweisen muss nicht gleich des Rätsels Lösung sein, vielleicht aber eine zusätzliche Möglichkeit. Und die Chance, sein Repertoire an Herangehensweisen zu erweitern. Vielleicht um das Paradoxe und Provokative. Zugänge, die ohne Humor kaum erschließbar sind.
Sie werden sich wundern, wenn ich an dieser Stelle als Supervisor dafür plädiere, nicht immer alles verstehen zu wollen. Manchmal erleichtert es ungemein, sich dafür zu entscheiden, etwas nicht ergründen zu müssen, also sich nicht weiter mit dem Hinterfragen und Analysieren von Entscheidungen oder Phänomenen zu beschäftigen, sondern statt dessen ins Handeln zu kommen. Weg vom Nachgrübeln hin zum Aktiv-Sein. Raus aus der zermürbenden Empathieschleife und hinein ins konstruktive Gestalten.
Wie heißt es in dem Song Big City Life von Mattafix: „Don`t let the system get you down.“ Gemeint sind nicht nur die Systeme der Vereine und Organisationen, in denen Sie tätig sind, sondern auch die persönlichen Systeme jener, die Sie tagtäglich betreuen.
Ich bin mir sicher, jeder hier im Raum, der in der sozialen Arbeit tätig ist, wurde in seiner Helferlaufbahn bereits einmal von einem Klienten so richtig platt gemacht. Psychisch ordentlich flach gelegt. Dann hat plötzlich nicht die Beraterin oder der Berater, sondern der Klient die Hosen an. Eine besonders gefinkelte Methode, HelferInnen zu entmachten, ist die sogenannte Projektion. Der Klient hat einen Film laufen und in diesem Film ist dem Helfer oder der Helferin eine bestimmte Rolle zugeschrieben, die der Helfer vielleicht gar nicht kennt, die er jedenfalls real nicht ist, was aber deshalb nichts nützt, weil der Autor und Regisseur des Films eben der Klient und nicht der Helfer ist. Und plötzlich findet man sich mit Eigenheiten ausgestattet, über die man im zugesprochenen Ausmaß nicht verfügt. Das kann von der Idealisierenden Überhöhung bis zur massiven Entwertung gehen. Ein immer wieder vorkommendes Phänomen, dass bei HelferInnen zu verbalen Lähmungs-erscheinungen führen kann.
Wenn jemand, der Langzeitarbeitslose jobfit machen soll, für einen Geheimagenten der Regierung oder einen Spion des AMS gehalten wird, … wenn ein verhaltensauffälliger Jugendlicher in seinem Betreuer eine Mischung aus abwesendem Vater, Polizist und Lehrer sieht …, wenn eine ältere Frau ihre Pflegerin derselben Lieblosigkeit und Geldgier verdächtigt, die sie ihrer Tochter unterstellt, kann es sein, dass die HelferInnen Unterstützung von außen brauchen. Um das Rollenspiel, in dem sie gefangen sind, zu erkennen, es aufzulösen und in die Arbeitsbeziehung wieder mehr Realität einfließen zu lassen.
Ein Ausflug in die Realität kann mitunter auch die lästige Wahrheit sein, dass unser Handeln immer Folgen hat. Positive oder negative, angenehme oder unangenehme. Unser Verhalten zieht Konsequenzen nach sich, und manchmal kann es sein, dass sie uns jemand einfach setzt. Im Sozialbereich wird mit Konsequenzen meist mit größter Sorgfalt umgegangen. Gut so. Doch allzu große Zögerlichkeit kann sich auch gegen den Helfer richten. Was tun, wenn vereinbarte Regeln partout nicht eingehalten werden? Wenn das strikte Verweigern von persönlichen Veränderungen zu einem für den Helfer kräftezehrenden Machtspiel wird? Nicht selten schreit das Verhalten von KlientInnen nach Konsequenzen, die das Beratungssystem aber nicht liefert, weil sich die Helfer nicht einig sind, weil niemand eine Entscheidung treffen will, oder weil das System seine Klienten, seine KundInnen, einfach nicht zu sehr vergraulen will.
Allerdings: wenn jemand schon ewig lange am Konsequenzenbaum rüttelt, finde ich es jammerschade, wenn nicht irgendwann einmal eine herunterfällt.
Zum Beispiel KlientInnen im Jugendbereich fürchten oder hassen unangenehme Konsequenzen, zugleich lieben sie sie (allerdings nur unbewusst und deshalb heimlich) als Orientierungshilfe. Die kluge und angemessene Konsequenz ist demnach eine echte Dienstleistung, ein Angebot an den Jugendlichen. Beim seit langem herrschenden Väterschwund mit einhergehendem Auseinandersetzungsmangel sogar ein echtes Geschenk. Und auch in anderen Bereichen ist die Konsequenz oft ein Mittel, um sinnlose Spiele zu beenden, an die gemeinsamen Vereinbarungen zu erinnern, Verhältnisse wieder klarzustellen, das Rollenverständnis zu festigen, zusammengefasst : sich abzugrenzen.
Witz, Humor, Frechheit, Konfrontation und Konsequenz … als ergänzende Draufgabe zu Einfühlen, Verstehen und Akzeptanz. Um zu wissen, welche Intervention oder welcher Interventionenmix jeweils angesagt ist, braucht es allerdings Zeit und Raum zum Nachdenken und Reflektieren. Unabdingbare Notwendigkeiten, die im gelebten Alltag gerne aus den Augen verloren werden.
Wenn Not an Frau oder Mann herrscht, kommt nämlich als erstes die Teamkultur unter die Räder. Gemeinsame Sitzungen werden versäumt oder verschoben, die Besprechungsinhalte reduzieren sich dann gerne auf Abläufe, Zahlen und Fakten, für Teamhygiene im Sinne von belebender Beziehungsgestaltung bleibt in Stressphasen zu wenig Zeit, weil man seine Energie für die Bewältigung der täglichen Anforderungen braucht. Wenn aber für die Pflege von Wohlfühlfaktoren wie Besonnenheit, Gelassenheit und Aufmerksamkeit keine Ressourcen mehr vorhanden sind, eignen sich auch die besten Teams nicht mehr als Aufladestationen für Batterien, die eventuell zur Neige gehen.
Für die Psychohygiene in Teams braucht es Strukturen. Eine vereinbarter Regelmäßigkeit und das Einhalten dieser Regelmäßigkeit. Klar reservierte Zeiten. Wieder und wieder muss man daran erinnern, dass eine halbe Stunde informelles Tratschen bei einer gemütlichen Tasse Kaffee keine Zeitvergeudung ist, sondern im Normalfall den Teamgeist stärkt.
All diese Bemühungen und Maßnahmen werden nur mäßig fruchten, wenn sich soziale Einrichtungen ständig in einem Zustand der Überforderung befinden und nur wenig Aussicht haben, in ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Das ist dann der Fall, wenn die Rahmenbedingungen – Personal, Räumlichkeiten, Betreuungsschlüssel, etc. – den tatsächlichen Anforderungen nicht entsprechen.
Wenn für das Viele, das geleistet wird und werden soll, zu wenig Ressourcen zur Verfügung stehen. In Richtung Politik und Stadt- und Landesregierungen könnte man sagen, dass die Auftraggeber Unmögliches verlangen, weil sie erfahrungsgemäß wissen, wer es dann doch noch irgendwie möglich macht. Nämlich die LeiterInnen der Einrichtungen mit ihren angestellten HelferInnen. Die werden den Laden schon schupfen. Was sie dann sehr oft auch tatsächlich tun.
Das führt dazu, dass MitarbeiterInnen im sozialen Sektor tendenziell dazu neigen, mehr leisten und ermöglichen zu wollen, als es die Rahmenbedingungen ihrer Auftrag- und Arbeitgeber vorsehen. Dieses Zuviel an Leistung kommt den Systemen zu gute, kann sich aber bei MitarbeiterInnen langfristig schädigend auswirken. Ich rede hier nicht von einer gesunden Portion Engagement, sondern von schleichender Selbstausbeutung, um Mängel wettzumachen, für die sich das System entschieden hat.
Ich halte hier ausdrücklich fest, dass diese gängige Praxis die Systeme am Lernen hindert. Nämlich die politischen und gesellschaftlichen Systeme. Wenn die Helferinnen immer wieder beweisen, dass es doch irgendwie geht, dass man sich doch immer irgendwie durchwurschteln kann, werden es Entscheidungsträger leicht haben, die herrschenden Mängel nicht zu sehen oder zu ignorieren, zumindest aber nicht darauf zu reagieren.
Ja, die Umstände machen es den HelferInnen nicht immer leicht, gut auf sich aufzupassen. Kluge ArbeitgeberInnen müssten sie dabei aber schon allein aus unternehmerischen Überlegungen bestmöglich unterstützen. Mit ressourcenschonenden Rahmenbedingungen und gezielter Burn-Out-Prophylaxe. Weil sie wissen, dass MitarbeiterInnen, die für ihre Aufgabe brennen, viel leisten. Und dass hingegen MitarbeiterInnen, die ausgebrannt sind, einiges kosten. Und für sozialarbeiterische Profis ist klar, dass HelferInnen umso effektiver helfen, je besser es ihnen selber geht. Weil HelferInnen nun einmal das Medium ihrer Arbeit sind. Ihr Körper, ihr Denken, Ihr Fühlen, ihre Haltung, ihre Kommunikationsweise, immer sind sie es selbst als ganze Personen, die im Zentrum ihrer Tätigkeit stehen, die man vor allzu großen Abnützungserscheinungen bewahren muss, damit ihre Arbeit förderlich und wirkungsvoll bleibt.
Private Möglichkeiten, seine Batterien wieder aufzuladen, wird jeder selber finden, und neben Yoga, Chi Gong und Schwitzhüttenritualen wird es wohl am ehesten die Gestaltung unseres persönlichen Beziehungsgefüges sein, die uns mit Seelennahrung speist. Dass wir gute Freunde brauchen, mit denen es sich auch berufsfremd blödeln, plaudern, feiern lässt, halte ich für selbstverständlich. Und dass es ganz persönliche Entspannungsfelder braucht, liegt auf der Hand. Ein mir bekannter Einrichtungsleiter erholt sich zum Beispiel am besten beim akribischen und gewissenhaften Putzen seiner Wohnung, eine andere bei der Gartenarbeit, ein dritter beim Hören von klassischer Musik, und ich kenne eine gesellschaftspolitisch engagierte Beraterin, die sich am allerbesten bei den Herz – Schmerzfilmen von Rosamunde Pilcher entspannt.
Ich persönlich mag lange Spaziergänge und ausdauerndes Schwimmen. Ich liebe es, zu lesen, umfangreich zu kochen oder am Keyboard sitzend „Let it be“ oder „A Mensch mecht i bleibn“ zu singen. Kartenspielen in einer ausgesuchten Männerrunde kann ebenso erlösend wirken wie ein Saunabesuch mit anschließender Massage.
Und es gibt Zeiten, in denen ich auskommuniziert bin, in denen ich die Begegnung mit anderen scheue, weil es höchste Zeit ist, mich selbst wieder einmal zu treffen. Dann genieße ich das Alleinesein.
Welche Methoden und Zugänge HelferInnen für sich auch immer entwickeln – wenn Sie sich umsehen, werden Sie feststellen, wie wichtig es ist, sich fit zu halten. Unsere Gesellschaftssysteme werden leider auch in Zukunft ganz verlässlich soziale Nöte und soziale Missstände produzieren. In Zeiten, in denen sehr wenige von dem profitieren, was sehr viele verlieren, sind wir dem sozialen Ungleichgewicht viel näher als dem Gleichgewicht. Darum braucht es Menschen, die konsequent darauf bestehen, dass der innere Zusammenhalt in unserer Gesellschaft unermesslich wichtig sind. Dass die Aufmerksamkeit anderen gegenüber, ein Mitbedenken und Mitfühlen anderer Wirklichkeiten und Schicksale eine wesentliche Qualität unseres Zusammenlebens darstellt. Der soziale Sektor und die Helferinnen und Helfer sind eine tragende Säule unserer Gesellschaft. Toll, dass viele unter uns sind, die ihren beruflichen Schwerpunkt dorthin gesetzt haben, wo mit besonderer Aufmerksamkeit und Zuwendung ein gewisses Maß an Ausgleich geschaffen wird.
Meine Damen und Herren, mit der Einrichtung „Freiwilliges soziales Jahr“ und als HelferInnen und Helfer leisten Sie eine immens wertvolle und zugleich äußerst anspruchsvolle Arbeit.
Auf Sparflamme zu fahren wird dafür mittel- und langfristig zu wenig sein. Genauso verkehrt wäre das ständig auflodernde, energieraubende Feuer. Ich wünsche Ihnen eine stabile und wohl dosierbare Glut. Und zugleich einen ausreichenden Energievorrat, der andere, aber auch Sie selbst, stetig und ausreichend mit Kraft versorgt. Herzliche Gratulation zum Vierziger und alles Gute für die Zukunft.
Leider waren zum Zeitpunkt seiner Rede die zur Feierlichkeit gekommenen damaligen politischen Persönlichkeiten wie Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer, Soziallandesrat Josef Ackerl sowie der damalige Sozialminister Dr. Erwin Buchinger nicht mehr anwesend, was ich extrem schade gefunden habe.
Ich selbst habe im Juli 2001 knappe vier Wochen auf der Intensivstation verbracht. Die ersten 14 Tage ging es um mein Überleben – es war nicht klar, ob ich es schaffen würde, die Intensivstation lebendig wieder zu verlassen. Ich habe miterlebt, wie sich Ärzte und MitarbeiterInnen eingesetzt und engagiert haben. Neben mir starben andere Menschen. Noch heute sind mir davon Bilder in Erinnerung, die sich fest in mir eingeprägt haben – über die ich kaum mit jemandem gesprochen habe. In der aktuellen Covid-19 Situation geht es wohl auch darum, Solidarität und Wertschätzung mit dem Personal in den Intensivstationen zu zeigen. Etwas zu tun, was den Alltag dort wohl wesentlich erleichtert. Das ist nicht viel – es reicht, sich impfen zu lassen! Die in den Medien geschilderte Aus- und Überlastung ist ernst zu nehmen. Und wenn schon von Triagen gesprochen wird, dann ist das System ohnehin schon am Zusammenbrechen! Und noch eines: Nach mehr als 40jähriger Tätigkeit im Sozialbereich ist für mich eines klar: Von der Politik war und ist wohl nie viel zu erwarten … und sie hat natürlich leichtes Spiel: Denn welche Einrichtungsleitung vertritt schon mutig und selbstbewusst gegenüber den zuständigen Politikern eine klare Haltung, was die Notwendigkeit von Personalressourcen für die zu bewältigenden Aufgaben betrifft? Nicht umsonst hat Landesrat Josef Ackerl in einer seiner Verabschiedungsreden seinerzeit gemeint: „Die Leitungen der Einrichtungen haben sich in seiner Ära gut entwickeln lassen“! Als Dank für ihren Gehorsamkeit und ihre Loyalität gab es dann die Verleihung zum „Konsulenten/Konsulentin für Soziales“!
Christian Aichmayr