Die Situation um Covid 19 mit der aktuellen Mutation Omikron hat uns in Österreich fest im Griff. Nach Ende des Lockdowns am 17.12.2021 in Oberösterreich warten wir eigentlich schon wieder auf die Ankündigung des nächsten Lockdowns – wo dann wohl wieder zahlreiche Menschen auf die Straße gehen werden, um gegen die vermeintliche Diktatur zu demonstrieren. Ich habe nun drei Artikel aus der Tageszeitung „Der Standard“ sowie zwei aus dem Wochenmagazin „Profil“ herausgesucht, die meines Erachtens das aktuelle Geschehen in Österreich ganz gut beschreiben. Auch ich persönlich erlebe eine „Spaltung des Gesellschaft“ in einem für mich noch nie dagewesenen Ausmaß – und ich tue es mir nicht mehr an, über „Geimpft“ oder „Ungeimpft“ zu diskutieren – es hat scheinbar ohnehin jede/jeder seine/ihre Argumente, die dann eben aufeinander prallen. Auch ich bin bei weitem nicht mir allem einverstanden, was von politischer Seite auf uns BürgerInnen losgelassen wurde – doch habe ich ein gewisses Nachsehen, denn wir sind wohl weltweit mit einer völlig neuen Situation konfrontiert. Knapp 5 Millionen „registrierte“ Todesfälle haben wir weltweit bislang zu verzeichnen – bei aktuell bislang 238 Millionen nachgewiesenen „Erkrankungen“.
Christian Aichmayr
ALOIS SCHÖPF
Warum Impfpflichtgegner wütend werden
Die Pandemie kommt vielen wie ein ideologischer Hausfriedensbruch vor. Ans Gemeinwohl zu denken war ihnen fremd, Solidarität sowieso. Das bittere Fazit: Gut gelebt, falsch gedacht
Im Gastkommentar fragt sich der Schriftsteller und Blogger Alois Schöpf, warum Menschen – auch in seinem Umfeld – beim Thema Corona so radikal werden.
Ehrlich gesagt: Es ist mir nicht egal, wenn einer meiner besten Freunde, dessen Intelligenz ich immer sehr hoch eingeschätzt habe, am Telefon zu brüllen anfängt, um mir zu erklären, dass mit der Impfpflicht ein weltweites faschistisches Regime im Anmarsch sei. Und es ist mir auch nicht egal, wenn eine von mir geschätzte nicht minder intelligente Dame, mit der ich auf Bergtouren und beim Musizieren schon sehr schöne Stunden verbracht habe, mir die Freundschaft aufkündigt, weil ich ihre Skepsis gegenüber den Maßnahmen der Regierung nicht teile. Es ist mir auch nicht egal, wenn bei Verwandtschaftstreffen plötzlich die Frage auftaucht, ob die Gastgeberin besser die Geimpften oder die Nichtgeimpften auslädt: Denn beides zugleich geht nicht!
Als empathischer Mensch stelle ich mir die Frage, was da in vielen meiner Bekannten vor sich geht, wenn sie in Raserei verfallen, sobald sie aufgefordert werden, sich solidarisch zu verhalten und aus dieser Solidarität heraus drei lächerliche Stiche in den Oberarm zu akzeptieren.
Goldenes Zeitalter
Was sind eigentlich die entscheidenden Veränderungen, die uns die Pandemie gebracht hat? Zum Ersten ist es sicherlich die radikale Machtübernahme durch die modernen Naturwissenschaften und durch das naturwissenschaftliche Denken. Epidemiologen, Virologinnen, Infektiologinnen, Intensivmediziner und Statistiker beherrschen die Bildschirme. Politikerinnen und Politiker sind, wo sie unter dem Anspruch besonderer Verantwortung agieren, bald nur noch die Exekutivorgane von Maßnahmen, die von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern vorformuliert wurden.
Eine weitere wesentliche Veränderung dürfte sich darauf beziehen, dass nach einem halben Jahrhundert eines Goldenen Zeitalters, in dem es fast nur noch darum ging, den stets wachsenden Wohlstand auf immer mehr Bürgerinnen und Bürger zu verteilen, sich der Staat nicht mehr als Wohltäter in Spendierhosen präsentiert, sondern trotz vieler Unwägbarkeiten und Unsicherheiten von Unbeteiligten zum Schutz von Beteiligten – Alten, Kranken – Solidarität einfordert.
Wissenschaft und Gemeinwohl
Unvermutet eröffnete sich dabei ein Defizit, das sich aus der unhinterfragten Selbstbeauftragung der Bürgerinnen und Bürger westlicher demokratischer und liberaler Gesellschaften ergibt: sich in Erfüllung des höchsten Lebensziels selbst verwirklichen zu müssen. Dass diese Selbstverwirklichung nur auf Basis eines funktionierenden Staates, eines funktionierenden Gesundheitssystems oder funktionierender Straßenbahnen, um nur drei Beispiele zu nennen, überhaupt möglich ist, geriet, da ja alles reibungslos funktionierte, dabei ebenso aus dem Blickfeld wie das Ideal des „bonum commune“, des Gemeinwohls.
Beides, das naturwissenschaftlich fundierte Denken wie auch die Notwendigkeit, auf das Gemeinwohl zu achten, veranlasst die Staaten nun dazu, ihre Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auch auf mit ihren Rechten verbundene Pflichten hinzuweisen, was offenbar bei manchen zu einer psychischen Gemengelage führt, die heftige allergische Reaktionen zur Folge hat.
Volkskulturell christlich
Um dies zu verstehen, sollte man sich in Erinnerung rufen, wie sehr die Naturwissenschaften und die daraus resultierenden Technologien das Leben der Menschen in einem Ausmaße verbessert haben, dass selbst ein französischer Sonnenkönig allein im Bereich der Zahnheilkunde mit Blick auf jeden einfachen, in der Vorstadt einer Großstadt lebenden kleinen Angestellten vor Neid erblassen müsste.
Andererseits wurden diese Fortschritte und das Denken, das sie ermöglichte, niemals in einer Weise gewürdigt, dass daraus auch die für ein Leben abseits von Medizin, Hygiene, Geschirrspülmaschinen und Wäschetrocknern notwendigen Schlüsse gezogen worden wären: Man blieb vielmehr, etwa in Österreichs Hainen und Fluren, zumindest volkskulturell christlich, was mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften auch dann nicht vereinbar ist, wenn man das Dogma „Credo quia absurdum est“ zur sophistischen Hilfe nimmt.
Unruhige Seele
Ja, man glaubte, sofern sich das orthodox Katholische im Hinblick auf die eigene Selbstverwirklichung oftmals als zu einengend erwies, zumindest an den Epochensprung der Bergpredigt, war zugleich ein wenig buddhistisch, beruhigte die unruhige abendländische Seele mit Yoga, stufte esoterische Welterklärungsversuche à la Rudolf Steiner als legitim ein, kultivierte eine daraus abgeleitete kritische Distanz zu den Wissenschaften, vor allem zur „Gerätemedizin“, und hielt die Pharmaindustrie grundsätzlich für korrupt, zwei Vorbehalte, die in Notfällen allerdings rasch fallengelassen werden.
Kurz und gut: Man richtete sich neben der komfortablen Eigentums- oder mietgünstigen Gemeindewohnung auch in einem weltanschaulichen Eigenheim ein und mobilisierte dazu unter den wohlwollenden Blicken eines Bekanntenkreises, der um des lieben Friedens willen lieber den Mund hielt, sämtliche global verfügbaren Selbsterhöhungs-, Selbstbeweihräucherungs- und Feeling-good-Ideologien.
Bittere Selbsterkenntnis
Wut und Raserei über die Impfpflicht resultieren daher sehr oft aus einem ideologischen Hausfriedensbruch, mit dem uns als uns selbst verwirklichen müssenden Individuen die Pandemie und staatliche Schutzmaßnahmen konfrontiert haben. Und sie resultieren aus der sehr bitteren Selbsterkenntnis, dass möglicherweise jahrzehntelang auf Kosten des guten Lebens unsauber gedacht und dabei auch vergessen wurde, was Solidarität ist.
In diesem Sinne ist das Bemühen der Regierungen, ihre Bürgerinnen und Bürger mit immer ausgefuchsteren Überredungs- und Korruptionsversuchen zum Einlenken zu bringen, begrenzt wirksam. Nur Gesetze und die Kontrolle, ob sie eingehalten werden, und Strafen, falls dem nicht so ist, werden uns, wenn überhaupt, aus der Misere retten. (Alois Schöpf, 24.12.2021)
HANS PLATZGUMER
Über die, die jetzt laut „Freiheit“ grölen: Gedanken
„Je freier wir sind, desto mehr Verantwortung müssen wir tragen“, sagt der Schriftsteller und Musiker.
Ein Essay über das, was uns die Freiheit abverlangt, wenn wir sie ernst nehmen
Viele, die „Freiheit“ grölen, wollen, ihrer diffusen Freiheitsauslegung folgend, gleichzeitig die Grenzen verriegeln und Zäune und Mauern errichten.
Der Begriff „Freiheit“ ist im Lauf der Zeit dermaßen beliebig und schwammig verwendet, verzerrt und entstellt worden, dass wir gut daran tun würden, ihn aus unserem Sprachgebrauch zu streichen. Er sorgt für nichts als Verwirrung. Wie auch „Heimat“ dient „Freiheit“ hauptsächlich als leere Worthülse oder eilig hervorgekramte Losung. Die Menschen nehmen es in den Mund, wie es ihnen beliebt. Schreien es aus sich heraus, ohne zu wissen, was sie tatsächlich damit meinen.
In den Pandemiejahren ist „Freiheit“ ein besonders in Mode gekommenes Unwort. Bezeichnenderweise sind es genau diejenigen, die am stärksten der Anziehung von „Heimat“ verfallen, die nun am lautesten von Freiheit schwärmen. Meinen sie „frei“ wie in „Arbeit macht frei“, den Toraufschriften der NS-Konzentrationslager? Identifizieren sie sich mit der Freiheitlichen Partei, den Freisinnigen oder den Freien Demokraten?
Viele derjenigen, die derzeit „Freiheit“ grölen, wollen, ihrer diffusen Freiheitsauslegung folgend, gleichzeitig die Landesgrenzen verriegeln und Zäune und Mauern errichten. Außenstehende sollen der Freiheit beraubt werden, das Land der hiesigen Freiheitskämpfer zu betreten – ein Land, das freilich selbst nicht frei ist, sondern eingebettet in eine hochkomplex globalisierte Welt, deren Verstrickungsmuster sogar für Fachleute kaum zu entschlüsseln sind.
Freiheit als Aufgabe
Wir alle haben mit allen zu tun, ob es uns gefällt oder nicht. Die Klimakrise, die Pandemie, die Migrationsbewegungen zeigen das in aller Deutlichkeit. Es ist eine Welt. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen“, lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Gerade die, die derzeit die Freiheit so lautstark skandieren, scheinen ihm in jeder Beziehung zu widersprechen. Im Grunde wollen wohl sie selbst am wenigsten wirklich frei sein, denn frei zu sein bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Freiheit ist bedingt durch Pflichtbewusstsein. Sie darf nicht als Narrenfreiheit missverstanden werden, sondern bedeutet Arbeit, ist eine Herausforderung, ist anstrengend.
Je freier ich bin, desto mehr trage ich die Konsequenzen für mein Tun. Der Schritt in die Freiheit ist ein Schritt in die Selbstständigkeit. Sobald ich ihn mache, kann ich meine Verantwortung nicht mehr auf einen Gott, Vormund oder Vorgesetzten abschieben, der zuvor noch meine Freiheit einschränkte.
Niemand kann frei sein, ohne selbstständig zu sein, stellte Maria Montessori schon vor über 100 Jahren fest. Natürlich ist ein Vogel im Käfig unfrei. Doch er bekommt zu essen und ist geschützt vor Gefahren. Wird er, der Freiheit nicht kennt, ihr ausgesetzt und sich selbst überlassen, wird er vogelfrei und voraussichtlich nicht lange überleben.
Wertvolles Gut
Jede Freiheit, die wir einfordern, müssen wir als wertvolles und zerbrechliches Gut begreifen, als Aufgabe. Mit unserer Freiheit bringen wir uns selbst und andere in Gefahr, genau daraus entsteht die Verpflichtung, besonnen mit ihr umzugehen. Ignorieren wir diese Tatsache, verwechseln wir Freiheit mit Fahrlässigkeit.
Es kann nicht jedem, der es als sein angeborenes Freiheitsrecht empfindet, eine Waffe zu tragen, ein geladenes Gewehr in die Hand gedrückt werden wie in den USA. Man sieht, wohin das führt. Niemand darf Freiheit einfordern, ohne zu verstehen, was sie für ihn, seine Mitmenschen und die Umgebung bedeutet.
Alles, was wir tun – je freier, entfesselter, umso mehr –, hat Auswirkungen, deren wir uns bewusst werden müssen, bevor wir anfangen. Wie in allen Bereichen unseres Zusammenlebens ist der Schlüssel auch hierzu die Bildung. Ohne Wissen und Erkenntnis ist Freiheit unmöglich.
Klare Denkbilder
Der Vogel kann seinen Käfig erst verlassen, wenn er darauf vorbereitet ist, was ihn draußen erwartet, der Mensch die Waffe erst tragen, wenn er sich die Berechtigung dazu erarbeitet hat, sich der Gefahren bewusst ist, sich an die daraus entstehenden Pflichten hält. Je mehr Zusammenhänge wir verstehen, desto freier können wir leben. Wenn wir klare Denkbilder besitzen, hielt Montessori fest, und die Fähigkeit haben, Entscheidungen zu treffen, gibt uns das ein Gefühl von Freiheit. Wir sind dadurch nämlich nicht von anderen abhängig.
Anders gesagt: Je mehr Wissen wir uns aneignen, desto freier können wir nicht nur sein, sondern sind es tatsächlich. Je genauer ich einschätzen kann, wohin meine Aktionen führen, desto mehr Wahlfreiheit besitze ich.
Anstatt dumpf in nur eine unausgeleuchtete Richtung zu drängen, die mich womöglich nur in neue Abhängigkeit bringt, erkenne ich etliche Alternativen. Freiheit ist immer ein Abwägen, ein Differenzieren. Sie ist nie absolut und schließt auch stets die Freiheit ein, das, was sich als Freiheit ausgibt, zu hinterfragen und abzulehnen.
Vernunft und Gewissen
Schon in der 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Erklärung der Menschenrechte war von Vernunft und Gewissen im Zusammenhang mit Freiheit die Rede. In unserer heute mehr als dreimal so dicht bevölkerten Welt ist das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten immer entscheidender.
Für die persönliche Freiheit des Einzelnen sind neben der Bewusstseinsbildung ethische Werte unerlässlich. Ich muss nicht nur erkennen, was ich mit meiner Freiheit anstelle, ich muss mein Handeln auch in den Kontext der Weltgemeinschaft einbinden. Freiheit ist mit Egoismus nicht vereinbar, sonst wird die des einen sofort von der des anderen zunichtegemacht.
Füge ich im Ausleben meiner Freiheit anderen Schaden zu, bin ich nicht frei, sondern asozial, eine Gefahr für die Allgemeinheit. Das ist ein universelles Gesetz, so ungern wir es hin und wieder hören. Die meisten von uns haben diese Grundvoraussetzung der Freiheit in ihrer Erziehung oder Schulbildung kennengelernt, es gehört zum Repertoire einer demokratischen Gesellschaft. Zu leicht aber gerät es in Vergessenheit. Das Wissen um die Freiheit muss wie alles Wissen ständig aufgefrischt, aktualisiert, adaptiert werden.
Rücksichtslosigkeit statt Freiheit
Wir können nicht 2021 derselben Freedom-Romantik nachhängen wie Dennis Hopper in Easy Rider 1969. Motorradfahrer geben besonders gern Sätze wie „Ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen“ von sich. Sie haben irgendwann den A-Führerschein gemacht und erfüllen die technischen Voraussetzungen zum Ausleben ihrer Freiheitsvision.
Doch den moralischen Bedingungen hält ihr Hobby heute, in Zeiten der Klimakatastrophe, nicht mehr stand. Ihr Lebensgefühl ist nicht Freiheit, sondern Rücksichtslosigkeit. Dort, wo wir uns der Rücksichtslosigkeit hingeben, weil wir es nicht schaffen, ein Bewusstsein zu entwickeln, muss der Staat eingreifen.
Gesetze, Verbote, Zwangsmaßnahmen müssen dann regeln, was selbstverständlich wäre. Es ist ein Versäumnis der Politik, es so weit kommen zu lassen. Ihre Aufgabe ist es, die moralische Kompetenz der Bevölkerung von vornherein zu fördern. Von diesem Ideal aber entfernt sie sich von Jahr zu Jahr weiter.
Pandemische Notlage
Die Selbstsüchtigkeit einer politischen Elite und Unmündigkeit eines breiten Bevölkerungsteils führen dazu, dass in Krisensituationen wie heute Demokratien schrittweise in befehlerische Staatsformen übergehen müssen. Am Ende einer solchen Entwicklung steht irgendwann der autoritäre Überwachungsstaat, in dem es keine Freiheit des Einzelnen gibt, weil ihm ein verantwortungsvoller Umgang mit der Freiheit weder angelernt wurde noch zugetraut werden kann.
Die pandemische Notlage erreicht unsere westliche Welt in einem heiklen Entwicklungsstadium, denn im Überangebot von digitalen Medien und Informationsquellen überfordert das zeitgleiche Eintreffen und die häufige Ununterscheidbarkeit von wahren und unwahren Behauptungen unsere Meinungs- und Entscheidungsfreiheit.
Da uns das Virus stets einen Schritt voraus ist, kann gesichertes Wissen erst nach und nach bereitgestellt werden, viel zu langsam im Vergleich zur Flut an Vermutungen und Gerüchten, die täglich in die Köpfe der Menschen gelangen. Das Recht des Einzelnen auf eigene Meinung wird so zu seinem vermeintlichen Recht auf eigene Fakten.
Der Wissenschaft wird nicht mehr die Zeit zugestanden, die sie benötigt, um Erkenntnisse sorgfältig zu prüfen. Unablässig verlangt die Hyperinformationsgesellschaft nach neuen Ergebnissen, seien sie noch so wenig aussagekräftig, und torpediert diese sofort mit Gegenthesen.
Faktisches Wissen, persönliche Freiheit
Eine Kakofonie an Wissen, Unwissen und Halbwissen entsteht. Die vorhin genannten Parameter der Freiheit sind in diesem Lärm kaum noch herauszuhören. Doch sie haben nach wie vor Bestand. So mühsam das Herausfiltern von Stichhaltigem sein mag, so schwer es ist, in der Pandemie nüchterne Vernunft und moralische Integrität zu bewahren, es ist nach wie vor die Voraussetzung für individuelle Freiheit.
Trotz all des Chaos kristallisiert sich durch Forschungsergebnisse nach und nach Wissen heraus. Widerwillig muss dann beispielsweise einer wie ich, der freies Atmen und freie Sicht durch seine Brillengläser liebt, zur Kenntnis nehmen, dass das Tragen einer Schutzmaske Menschen vor Ansteckung schützt.
Ein freischaffender, selbstständiger Künstler wie ich, der seine Tätigkeit liebt, muss hinnehmen, dass sie nur mehr unter Einschränkungen, zeitweise gar nicht möglich ist. Er liest zwar in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass jeder Mensch das Recht hat, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, doch schon der übernächste Artikel sagt, dass er Beschränkungen unterworfen ist, um die Achtung der Freiheiten anderer zu sichern und den Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles zu genügen. Ich darf, erkenne ich Freiheit als das an, was sie ist, andere nicht durch meine Freiheitsausübung einengen und gefährden.
Verantwortung
Wie sieht es im Rahmen einer solchen Analyse mit den individuellen Freiheiten der Impfgegner aus? Inwieweit erfüllen sie die genannten Kriterien der Freiheit, handeln sie verantwortungsvoll, bewusst im Sinne der Allgemeinheit? Liegen ihrer Entscheidung logische, rationale Argumente zugrunde?
Bei allem Verständnis dafür, dass sie aufgehört haben, der Politik zu vertrauen, überspannt ihre Einstellung den Freiheitsbegriff. So essenziell eine skeptische Grundhaltung allem Diktat gegenüber ist, die Gründe, die im jetzigen Fall gegen das Impfen sprechen, können dem angesammelten Wissen und den milliardenfachen Erfahrungen mit den gängigen Impfstoffen zu wenig Rationales, Vernünftiges, Plausibles entgegensetzen.
Faktisches Wissen darf im Zusammenhang mit persönlichen Freiheiten nicht ignoriert werden, auch ist es moralisch nicht vertretbar, den Schutz vor schweren Covid-Verläufen absichtlich abzulehnen. Eine solche Entscheidung geht zulasten des Pflegepersonals, das in Spitälern und Intensivstationen jene Arbeiten erledigt, die nur so wenige von uns mehr machen wollen.
Die Schuld für das trotz Pandemieerfahrung immer schlechter ausgestattete Gesundheitswesen muss der Staat auf sich nehmen, daran besteht kein Zweifel. Doch diese Tatsache entbindet die einzelnen Staatsbürger nicht ihrer Pflicht, im Hier und Jetzt Verantwortung für ihre Freiheitsausübung zu übernehmen.
Vielleicht muss diese Verantwortung nicht in Form von Impfbereitschaft getragen werden? Statt einer Impfung gibt es andere, deutlich kompliziertere, langwierige, kostspielige Wege, sich und andere zu schützen: die freiwillige Isolation, das ständige Tragen der Schutzmaske und regelmäßiges Testen auf eigene Kosten in Verbindung mit einer ganzheitlich auf die Gesundheit ausgelegten Lebensführung. All dies bringt aber ein behutsames, abgekapseltes Leben jenseits herkömmlicher Freiheit mit sich, das nur die wenigsten bereit sind, in Kauf zu nehmen. Die restlichen Impfgegner haben den Freiheitsbegriff nicht in vollem Umfang durchdacht. (Hans Platzgumer, ALBUM, 18.12.2021)
Hans Platzgumer, Schriftsteller und Songwriter, lebt in Bregenz und Wien, veröffentlicht Romane, literarische Essays, Alben, Videos, Theater- und Hörspielkompositionen. Zuletzt erschienen: „Bogners Abgang“ (Roman, 2021), „Willkommen in meiner Wirklichkeit!“ (Essay, 2019), „Convertible: House Arrest“ (Single, 2021).
HANS RAUSCHER
Impfpflicht – Die Freiheit, die sie meinen
Woche für Woche gehen zehntausende Menschen auf die Straße, radikalisieren sich zunehmend. Geht es nur um Corona?
Es ging dieser Tage im österreichischen Nationalrat um die Behandlung des sogenannten „Impfpflicht-Nein“-Volksbegehrens, das es auf 269.000 Unterschriften gebracht hatte. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein räumte in seinem Debattenbeitrag ein, dass die mit 1. Februar 2022 gesetzlich festgelegte Impfpflicht zwar einen Eingriff in die Grundrechte darstelle, griff aber dann zu dem berühmten Zitat des berühmten deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804), um das Argument der Impfgegner zu widerlegen, sie würden ihre Freiheit verlieren:
„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“
Das Problem ist, dass dieses Zitat bei Kant nirgends zu finden ist. Auch nicht bei dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau oder bei der deutschen Sozialistin Rosa Luxemburg, denen es ebenfalls unterschoben worden ist.
Was genau verstehen die gegen die Corona-Maßnahmen Demonstrierenden eigentlich unter „Freiheit“?
Macht nichts. Was Mückstein und all die anderen, die den Spruch in Sachen Corona bereits verwendet haben, damit sagen wollen, ist: Die persönliche Freiheit des Einzelnen hat Grenzen, die durch das Allgemeinwohl gezogen werden. Diese Freiheit darf nicht so extensiv und rücksichtslos ausgelegt werden, dass sie anderen schadet.
Was verstehen sie unter Freiheit?
Die Corona-Demonstrierenden verstehen das in genau gegenteiligem Sinn: „Freiheit“ ist für sie die Erlaubnis, in einer Seuche Schutzmaßnahmen wie Impfung oder Maskentragen zu ignorieren – auf Kosten der anderen.
Sehr praxisnah und direkt angewendet auf das Heute hat es die bekannte Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner kürzlich im Falter formuliert: „Wenn ich meine Freiheit, nicht geimpft zu werden, beanspruche, spreche ich anderen indirekt das Recht auf zeitnahe Behandlung und damit auf körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben ab. Das ist brutal, egoistisch und wirklich nicht klug.“
Der so unterschiedlich deutbare Freiheitsbegriff geht letztlich auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 durch die Französische Revolution zurück: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern.“
Geht es nur um Corona?
Aber geht es bei der „Freiheit“ der Impfgegner nur um Corona? Ist es vielleicht die „Freiheit“, aus einem als fremd und unbefriedigend, ja feindlich empfundenen „System“ aussteigen zu wollen? Ist der Widerstand gegen die Corona-Politik eine Art Staatsverweigerung, eine Systemunzufriedenheit? Oder ein schon länger schwelender großer Frust über die eigenen Lebensumstände, der die Pandemie jetzt eben als Anlass nimmt? Geht es vielleicht um mehr als Corona?
Die Demonstrierenden, ob es nun esoterische Schamanentrommlerinnen sind oder amtsbekannte Rechtsextreme mit Hitlerjugend-Undercut und Sonnenrad-Tätowierungen oder auch ideologisch weniger ausgeprägte „Normalbürger“. Sie sagen zwar, dass sie die Freiheit ihres Körpers verteidigen, in den nichts „hineingespritzt“ werden soll. Aber das nimmt sofort auch eine (gesellschafts-)politische Dimension an: Die Demonstrierenden nehmen die Parole des rechten FPÖ-Chefs Herbert Kickl auf: „Österreich ist eine Corona-Diktatur“.
Sie verwenden teils bewusst, teils politisch bewusstlos die Begriffe, Symbole und Märtyrerfiguren der furchtbarsten Diktatur Europas, um sich als Opfer darzustellen. Sie tragen Judensterne mit dem Aufdruck „ungeimpft“ oder vergleichen ihren Widerstand mit dem der enthaupteten Sophie Scholl.
Toxische Gemengelage
Nicolas Stockhammer vom rechtsphilosophischen Institut der Donau-Uni Krems sagte bei einer Pressekonferenz des neuen Innenministers Gerhard Karner, zu Beginn der Corona-Pandemie sei es zu einer Polarisierung und ideologischen Spaltung der Gesellschaft gekommen. An den Demos beteilige sich ein „heterogenes Teilnahmefeld“, von friedlichen Impfgegnerinnen und -gegnern über Esoterikerinnen bis zu „Reichsbürgern“ (die den demokratischen Nachkriegsstaat nicht anerkennen und immer noch im Deutschen Reich leben wollen, Anm.), Rechtsextremen und Hooligans (gewalttätigen Fußballanhängern). Die Gemengelage sei „hoch toxisch“.
Ähnlich argumentierte der Soziologe Johannes Kiess von der Universität Siegen im Gespräch mit der Deutschen Welle. „Was sie vereint, ist Frustration – nicht nur mit der Corona-Politik, sondern auch mit der Demokratie, mit politischen Institutionen.“
Das ist in halb Europa so. In Frankreich waren es die Gelbwesten, die gegen die Verteuerung des für sie lebensnotwendigen Benzins gewalttätig protestierten, in Deutschland die Pegida, deren Motiv Fremdenhass ist, in den Niederlanden randalierten Jugendliche überwiegend aus dem Migrantenmilieu.
In den USA gibt es schon länger das Phänomen der Staatsverweigerer, der bewaffneten Milizen in Mittelwestkaffs, die sich von den „schwarzen Helikoptern“ der Regierung oder der Uno fürchten. Sie sind schwerbewaffnet und gegen jede Staatsautorität. Aus ihren Kreisen rekrutierten sich die Erstürmer des Kapitols am 6. Jänner. Auch sie haben ihren Freiheitsbegriff: Sie wollen ihre Waffen frei tragen und freigesprochen werden, wenn sie Schwarze abknallen. Das ist für sie Freedom.
Tiefgreifende Vertrauenskrise
In Österreich ist der Frust inzwischen ein Mittelschichtsphänomen. Das renommierte Sora-Institut konstatiert in seinem jährlichen „Demokratie-Monitor“, das „Systemvertrauen“ sei auf dem tiefsten Punkt seit Erhebungsbeginn: Derzeit seien beinahe sechs von zehn Menschen (58 Prozent) davon überzeugt, dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht gut funktioniert.
Das Neue daran: Während sich die Menschen im unteren Drittel der Gesellschaft traditionell als missachtet und „Menschen zweiter Klasse“ fühlen, trifft das seit der Pandemie nun auch Menschen des mittleren und des oberen Bevölkerungsdrittels.
Studienautorin Martina Zandonella: „Hierbei geht es nicht um ein ‚Für oder gegen die Maßnahmen‘. Im Vordergrund steht ein Nicht-gesehen-Werden bei deren Ausgestaltung, das allen voran junge Menschen, Eltern von Kindergarten- und Schulkindern, Menschen in systemrelevanten Berufen und arbeitslose Menschen ausdrücken.“ All das bei ungebrochener Zustimmung zur Demokratie.
Die Rechten haben sich draufgesetzt
Diese „Normalbürger“ wünschen wohl keinen Umsturz in Richtung eines autoritären Systems. Sie wollen Reformen, ein besseres Eingehen auf ihre Bedürfnisse. Doch ist es so, wie der deutsche Soziologe Spiess konstatiert: „Was wir überall gesehen haben, ist, dass sich Akteure aus dem rechten Spektrum an die Spitze stellen, mitorganisieren oder mobilisieren (…) Dieses Narrativ: ‚Die Rechten kapern die Bewegung‘ ist Quatsch, sie waren von Anfang an dabei. Und es war von Anfang an für niemanden ein Problem“?
Österreich hat da wieder eine Vorreiterrolle. Die drittgrößte Parlamentspartei mit zuletzt (2019) 16,2 Prozent schließt das große Corona-Bündnis mit den Rechtsextremen.
Der FPÖ geht es ganz sicher nicht vorrangig um Corona, obwohl die Ideologie „Mein (deutscher) Volkskörper ist gesund“ eine Rolle spielt. Es geht ihr um ein „anderes System“. Um Delegitimierung der liberalen Demokratie. Das reicht zurück bis Jörg Haider, der in seinem programmatischen Buch von 1993 Die Freiheit, die ich meine ein „Plädoyer für die dritte Republik“ führte: Zusammenlegung von Bundespräsident und Kanzler, Zurückdrängung des Parlaments, Regieren mit populistisch angeheizten Volksabstimmungen. Also ein klassisches populistisch-autoritäres Modell.
Übelste Anspielungen
Ähnliche Gedanken findet man bei der neuen, vordergründigen Corona-Leugner-Partei MFG – Menschen Freiheit Grundrechte (sie käme nach heutigen Umfragen bei Wahlen ins Parlament), mit der Andreas Sönnichsen, der soeben von der Med-Uni Wien entlassene Anti-Impf-Mediziner, sympathisiert.
„Gemeinsam für die Freiheit“. „Frieden, Freiheit, Souveränität“. „Der beste Sklave denkt, er ist frei“. Das steht auf den Transparenten. „Kein Kompromiss zwischen Zwang und Freiheit“, schreit Kickl in die Menge. „Impfen macht frei“ steht, in übelster Anspielung auf das Motto über den Lagertoren der KZ, auf den Ansteckern der Demonstranten. Die Freiheit, die sie meinen, hat dazu geführt, dass Securitys vor Krankenhäusern, Medienbüros stehen müssen, Politiker und impfende Ärzte Morddrohungen erhalten.
Immanuel Kant formulierte 1793 kompliziert: „… ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (…), nicht Abbruch tut.“
Man achte auf den Passus „nach einem möglichen allgemeinen Gesetze“. Das Wesentliche bei Kant ist: Der Rahmen der menschlichen „Glückssucherei“ wird nur durch den Rechtsstaat gesetzt. (Hans Rauscher, 18.12.2021)
EDITH MEINHART
Corona-Krise: Die Pandemie entzweit die Gesellschaft
Nach fast zwei Jahren Pandemie segeln Geimpfte und Ungeimpfte auf Wellen von Misstrauen, Verachtung und loderndem Hass in Richtung Konfrontationskurs. Wie kommen wir da heil wieder heraus?
Für besonders strapazierfähig hielt Alexis de Tocqueville den menschlichen Verstand nicht. In Zeiten der Krise irre er „durch die Dunkelheit“, bemerkte der französische Politiker (1805–1859) einmal. Mit zwei Jahren Pandemie im Rücken möchte man ihm beipflichten. Auf den Straßen trommeln und skandieren sich Zehntausende die Seele aus dem Leib. Reichsflaggen wehen. Weihrauchkessel werden geschwungen. Auf Schildern und Transparenten steht: „Freiheit!“ Oder: „Uns kriegt ihr nie!“ Was die Demonstranten antreibt, ist ein großes Dagegen: Nein zur Impfung und zu staatlicher Bevormundung. Nein zu profitgierigen Pharmakonzernen, Virologen und Besserwissern, zu Mainstream-Medien und überhaupt – zu „denen da oben“.
Da stehen wir nun also. Sollten die obersten Corona-Krisenmanager je erwogen haben, nicht nur Masken, Abstand, Lockdowns und Impfungen zu dekretieren, sondern mit den Verängstigten und Unwilligen ins Gespräch zu kommen – was wohl die Voraussetzung dafür wäre, zumindest die Wankelmütigen unter ihnen für eine gemeinsame Anstrengung gegen die Schwarmintelligenz der Coronaviren zu gewinnen – dann ist diese Tür nun leider zugeschlagen. Von dem Vertrauen, das die Regierung in den Anfängen der Pandemie beflügelte, ist nur noch ein kläglicher Rest übrig. Zwischen Geimpften und Ungeimpften nistete sich die Gehässigkeit ein. In beruflichen und privaten Beziehungen reißen die Gesprächsfäden, Ehen taumeln Richtung Abgrund, Freundschaften zerbrechen.
Wie kommen wir da wieder heraus?
„Kindermörder!“, „Todesengel!“, „Covidioten!“, „Eso-Trotteln!“, ruft es in den Wald. „Impfnazis!“, „Lügner!“, „Demokratiezerstörer!“, schallt es zurück. Moment! Halten wir kurz die Luft an, bevor der Tonfall zur schlechten Gewohnheit wird, die einem nicht einmal mehr auffällt. Erschrecken wir ein bisschen, nicht nur vor „den anderen“, sondern auch vor uns selbst. Die Pandemie sei gemeistert, hatte die ÖVP im Sommer plakatiert. Hoffnungsfroh blickten Touristiker auf die herannahende Schneesaison. Im Tiroler Bergdorf Ischgl rüsteten sich Hüttenwirte und Clubbetreiber für das alte Normal. Es schien zum Greifen nahe. Selbst die als Corona-Hotspot berühmt gewordene Après-Ski-Bar „Kitzloch“ wollte neu durchstarten. Wir waren fertig mit dem Virus. Doch Sars-CoV-2 ist noch nicht fertig mit uns.
Nun rückt die Regierung dem Virus mit einer Impfpflicht zu Leibe. Die Ankündigung des Vorhabens befeuerte wütende Proteste auf der einen Seite des Corona-Grabens – und rechthaberischen Furor auf der anderen. Die Befürworter posieren auf Facebook mit nacktem Oberarm und „frisch geboostert“, um Likes für ihre tatkräftige Vernunft zu sammeln und jene zu beschämen, die dazu nicht fähig sind. Die Impfgegner rücken näher zusammen. Die Feststellung der israelischen Soziologin Eva Illouz, das Virus sei nicht nur ein biologisches, sondern auch ein politisches Ereignis, bestätigt sich aufs Neue. Wie finden wir aus dem Schlamassel heraus?
Sich zu fragen, warum Menschen handeln, wie sie handeln, ist für den Anfang schon einmal nicht schlecht. Werner Wintersteiner, der sich als Konflikt-und Friedensforscher berufsbedingt seit Jahrzehnten mit entzündlichen Gemengelagen beschäftigt, hat die Motive der Impfgegner sortiert: Mal beherrscht die Angst vor gesundheitlichen Folgen Denken und Handeln, mal geht es darum, einen trotzigen Akt der Selbstbestimmung gegen staatliche Willkür zu setzen, mal hält man den Impfstoff für zivilisatorisches Gift, die Pandemie für eine Erfindung finsterer Mächte und das eigene Immunsystem für unbezwingbar. Dazu gesellt sich ein aggressiver, teilweise gewaltbereiter und militanter Kern von Staatsverweigerern, Rechtsextremen und Neofaschisten. Auch sie halten angeblich die Freiheit hoch, sind für eine pluralistische, offene Gesellschaft aber die übelsten Anwälte der Freiheit, die man sich nur denken kann.
Das ist eine der Zumutungen der liberalen Demokratie. Es ist bei Weitem nicht die einzige. Die Pandemie könnte in diesem Punkt eine Lehrmeisterin sein. Man müsste weder verstehen noch gutheißen, dass Menschen sich nicht impfen lassen. Man müsste es bloß ertragen, wie auch alle anderen, die nicht so leben und denken wie man selbst. 100 Prozent Gefolgschaft sind schlicht nicht zu haben. Selbst die staatliche Einführung des ewigen Lebens würde vermutlich noch Widerstand mobilisieren. Wer nach vollkommener Übereinstimmung strebt, rüttelt an den Grundfesten der liberalen Demokratie. Der Befund mag trivial sein, doch er weist auch den Ausweg.
Was passiert in Gesellschaften, bevor Menschen mit kriegerischem Furor aufeinander losgehen? Diese Frage trieb den amerikanischen Psychoanalytiker Vamık Djemal Volkan zeitlebens um. Zwar sind die österreichischen Verhältnisse von bürgerkriegsähnlichen Zuständen weit entfernt. Dennoch helfen Volkans Überlegungen weiter. Pluralistische, offene Gesellschaften zeichnen sich durch vielschichtige Identitäten aus. In Vorkriegsgesellschaften – etwa am Balkan vor Ausbruch der blutigen Auseinandersetzungen Anfang der 1990er-Jahre – wird Schicht für Schicht entwertet und zerstört, bis ein letztes – etwa religiös-ethnisches – Merkmal übrig bleibt. An dieser Demarkationslinie entlang entzweit sich die Bevölkerung: Die eigene Identität wird überhöht, die der „anderen“ entwertet, bis selbst Nachbarinnen und Arbeitskollegen füreinander zu Objekten geworden sind, die man quälen, bespucken und eines Tages vielleicht umbringen möchte.
Spaltung ist nicht per se schlecht
Das Herausbilden von radikalisierten Minderheiten ist um jeden Preis zu verhindern. Spaltung aber ist nicht per se schlecht. Aus demokratiepolitischen Erwägungen muss man begrüßen, dass Menschen sich politisieren und an Demonstrationen teilnehmen. Viele von ihnen zum ersten Mal. Aber wenn sie Schulter an Schulter und ohne Maske gegen die Maßnahmen zur Eindämmung einer ansteckenden Krankheit marschieren, liegt die „große Wunde einer individualistischen, auf rationale Entscheidungen setzenden Kultur“ bloß, wie der deutsche Soziologe Armin Nassehi in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ feststellte. Unsere Freiheit funktioniert, „wenn wir aus freien Stücken das Richtige tun. Freiheit heißt im Grunde: Sei frei, tu, was du willst, aber wolle das Richtige!“
An diesem Paradoxon scheitern wir nicht nur im praktischen Alltag, daran zerbricht auch eine politische Kommunikation, die sich am machiavellistischen „Teile und Herrsche“ ausrichtet. Das Credo, der Vergrößerung der eigenen Macht, der Maximierung der Wählerschaft und dem Ausschalten des Gegners fast alles unterzuordnen, entfaltet in pandemischen Zeiten toxische Wirkung. War den Marketing-Leuten, PR-Arbeitern, Unternehmensberatern und Chefstrategen im Dunstkreis von Ex-Kanzler Sebastian Kurz nicht klar, dass ein gemeinsames Vorgehen nötig ist? Galt das Wort von Psychologinnen, Public-Health-Experten und Soziologen nichts? Was von der türkis-grünen Regierungskommunikation nach fast zwei Jahren übrig bleibt, ist genau das, wovor Konfliktforscher wie Volkan warnen: zwei Merkmale. Gut und böse. Geimpft und ungeimpft.
Die politische Kaste war schon einmal weiter. Vor mehr als 25 Jahren galt es, eine enorm skeptische Bevölkerung für den Beitritt zur Europäischen Union zu erwärmen. Man affichierte „Reden wir darüber“-Plakate, tingelte durch Stadt und Land, um Bürgerinnen und Bürger „abzuholen“, wie Sozialpsychologen es ausdrücken. Weder angebliche Schildläuse im Joghurt noch die befürchtete Teuerung blieben dabei ausgespart. Man richtete Brüsselreisen und Diskussionen aus. Kommunalpolitikerinnen, Grätzelbetreuer, Lehrer, Uni-Professorinnen, Pfarrer, Unternehmerinnen, Betriebsräte, Fußballtrainer: Alle wurde für das „gemeinsame Europa“ eingespannt. Warum sind vergleichbare Anstrengungen aus der Pandemie-Zeit nicht bekannt?
„Gehorsam durch Angst“
Wie ein im Frühjahr 2020 geleaktes Gesprächsprotokoll zeigt, setzte Kurz damals auf eine „Gehorsam durch Angst“-Strategie. Sein Nachnachfolger im Kanzleramt, Karl Nehammer, schlägt nun versöhnliche Töne an. Falls dahinter die Einsicht steht, dass man nicht nur Gehorsam erntet, wenn man Angst sät, sondern auch Reaktanz und Gegendruck; dass man Konflikte durch Abwertungskaskaden und Drohungen so lange zuspitzt, bis sie nicht mehr lösbar sind; dass Strafen und Quälen die Verfemten in eine Subkultur treibt, in der gefälschte Impfzertifikate als Ausweis der Ehrenmitgliedschaft gelten – dann kommt sie reichlich spät. Zu spät jedenfalls, um die Impfpflicht noch mit Peer-Group-Initiativen vorzubereiten, zu spät für eine Palette an bewährten Methoden, verlorenes Vertrauen aufzubauen, ein Gespräch auf Augenhöhe in Gang zu setzen, die Entfremdung nicht noch weiter voranzutreiben. Rund zehn Prozent wären laut dem Corona-Panel der Universität Wien noch für eine Impfung zu erreichen. Sie ergeben einen erheblichen Unterschied. Bevor man anfängt, den unbelehrbaren Rest mit Schimpf, Schande und Verwaltungsstrafen zu überziehen, lohnt es sich, ein weiteres Mal innezuhalten.
„Never let a good crisis go to waste“: In der Pandemie bewährt sich der über Generationen weitergereichte Ratschlag Winston Churchills, der Großbritannien von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 regierte. Eine Lehre könnte sein, dass Politiker, die sich in patriarchaler Logik als klassische, handlungsfähige Helden positionieren, eher Teil des Problems als Teil der Lösung sind. Selbst der allergrößte Machatschek weiß nicht alles, sieht nicht alles kommen, kann nicht alles kontrollieren, am wenigsten die komplexen Dynamiken sozialer Proteste. Wer bloß auf „Gehorsam durch Angst“ und strenge Maßnahmen setzt, unterschätzt die wichtigsten Ressourcen bei der Bewältigung von Krisen und Konflikten: Vertrauen und Anerkennung. Daran herrscht im unteren gesellschaftlichen Drittel seit jeher drückender Mangel. Inzwischen meint quer durch die Bevölkerung deutlich mehr als die Hälfte (58 Prozent), dass das politische System nicht so funktioniert, wie es sollte, wie der fortlaufende „Demokratie Monitor“ des Sora-Instituts kürzlich zutage förderte. Im unteren Drittel fühlte sich das Gros gar nicht mehr wahrgenommen: Nur mehr 18 Prozent meinen, dass im Parlament „Menschen wie ich“ vertreten sind. Und ganze 84 Prozent fühlen sich von der Politik wie „Menschen zweiter Klasse“ behandelt.
Hier schließt sich der Kreis. Als der Soziologe Oliver Nachtwey mit einem Team der Universität Basel die Corona-Proteste in Deutschland und der Schweiz erforschte, stieß er auf einen über allem schwebenden Generalverdacht gegen das politische System, gegen Wissenschaft, Schulmedizin, Medien, Justiz. Die Tür zur politischen Radikalisierung steht sperrangelweit offen. Laut einer noch unveröffentlichten Umfrage fühlen sich in Österreich heute 2,5 Millionen Wählerinnen und Wähler von keiner Partei mehr vertreten, so viele wie nie zuvor. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach dem Notausgang möglicherweise falsch gestellt. „Es gibt nur einen Weg durch, und das heißt, wir müssen anders werden“, sagt Harald Katzmair, Sozialphilosoph und Geschäftsführer des Netzwerkanalysten FASresearch.
Ein Beispiel, das für viele andere steht: Ein Wissenschaftssystem, das einen nicht mehr überblickbaren Output hervorbringt und sich in tribalistischen Statuskämpfen aufreibt, riskiert Reputation und Glaubwürdigkeit. Im Vorjahr erkundete FASresearch im Auftrag von Pfizer Deutschland, welche Lehren aus der Pandemie zu ziehen sind. Eine der wichtigsten ist laut Katzmair, dass die Wissenschaft dort gestärkt hervorgeht, „wo Daten und Erkenntnisse ausgetauscht werden und grenzüberschreitend kooperiert wird.“ Das Fazit des Sozialphilosophen: „Die Frage ist, wie sich Wissenschaft weiterentwickeln und mit Menschen von außerhalb in Berührung bringen kann.“
Eitle Inszenierung wird dabei kaum zielführend sein. Es erfordert psychologisches Einfühlungsvermögen, will man Menschen dazu bringen, die Rolle des Opfers, auf dem immer nur herumgetrampelt wird, abzulegen. Verhaltensänderungen fallen leichter, wenn dabei niemand das Gesicht verliert. Das Gerede von einer „Pandemie der Ungeimpften“ soll Zögerlichen und Skeptikern ein schlechtes Gewissen machen. Aber wie viele von ihnen denken wirklich um, wenn man sie zu Bösewichten der Pandemie stempelt, wie viele verhärten sich noch mehr? Geimpfte scheinen gar nicht zu merken, wie verlogen sie manchmal wirken, wenn sie sich zu Heroen der Selbstlosigkeit stilisieren und Ungeimpften fehlende Solidarität vorwerfen. Schließlich holt sich nicht jeder und jede den dritten Stich aus Rücksicht auf vulnerable Gruppen und das Gesundheitspersonal; oft zählt der pure Eigennutz, der Weg zurück ins Fitnessstudio oder auf die Skipiste. Wer Impfgegnern zuhört, wird feststellen, dass sie sich selbst auch oft als solidarisch beschreiben und sich die Befindlichkeiten diesseits und jenseits des Corona-Grabens ähneln. Hier wie da geht es darum, „gesehen und anerkannt zu werden, wie man ist, aus der Sicherheit einer Beziehung heraus weniger Angst zu haben in der Welt“ (Katzmair).
Die Proteste der Impfgegner ausschließlich mit der Pandemie zu erklären, greift auch für den Konfliktforscher Werner Wintersteiner zu kurz: „Wir haben es mit einer Verschiebung zu tun. Dieser Protest eignet sich für das, was wesentlich ist: zunehmende Entfremdung, fehlende Anerkennung. Die Frage ist, ob wir zum Wesentlichen vordringen.“ In das Leben einer Alleinerzieherin, die als Ungeimpfte von Gleichgesinnten plötzlich zu hören bekommt: „Wir müssen aufeinander schauen!“, tritt etwas, das vorher schmerzlich fehlte: Wärme, Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Und dass hinter rechten „Wir sind das Volk“-Transparenten sogar Pflegerinnen und Spitalsmitarbeiter laufen, liegt vielleicht auch nicht primär am fehlenden Sachverstand – eher unwahrscheinlich -, sondern unter Umständen daran, dass diese es im beruflichen Alltag mit selbstherrlichen Spitzenärzten zu tun haben, die andere wie Lakaien herumscheuchen und Behandlungsfehler unter den Teppich kehren. Studien dazu stehen noch aus; es wäre psychologisch jedenfalls nachvollziehbar, dass so jemand beginnt, sich seinen eigenen Reim auf die Verheißungen der Hightech-Medizin zu machen. Oder auf eine neuartige Impfung.
Eine „kumulierte Misere“
Misstrauen, Ohnmachtsgefühle und Angst brauen sich aus diversen Quellen zusammen. Konfliktforscher Wintersteiner spricht von einer „kumulierten Misere“. Experten, die mit Prognosen danebenliegen, sich dafür nie erklären oder gar entschuldigen, steuern einen erheblichen Teil dazu bei. So wie auch Forscher, die ihre Hypothesen wie Gewissheiten vortragen. Und Regierungsvertreter, die einen Lockdown ausschließen, um ihn danach zu verhängen. Der vielleicht kapitale Fehler der politischen Kommunikation war die Suggestion, die Impfung wäre eine Art Superman-Schutzanzug gegen eine Ansteckung. Schon in der Urstudie von Pfizer im November 2020 war nachzulesen, dass sie zu über 90 Prozent davor bewahrt, schwer zu erkranken. Das Risiko, dass Corona-Viren bis in die Lunge vordringen, um dort ihr verheerendes Werk zu verrichten, wird damit dramatisch reduziert. Einen 100-prozentigen Schutz bietet sie allerdings nicht. Darüber hätte man die Bevölkerung von Anfang an aufklären können.
Kommunikation ist die schärfste Waffe in der Pandemie. Diese Waffe nach mehrfachem unsachgemäßen Gebrauch einfach wieder in den Halfter zurückzustecken, als wäre nichts passiert, ist einfach nicht in Ordnung. Auch ein paar hingenuschelte Politiker-Entschuldigungen machen nicht wett, dass viel zu viele Menschen selbst zuverlässigen Quellen und besten Absichten nicht mehr vertrauen. Es bestreitet niemand, dass sich im Lager der Corona-Gegner auch verhuschte Apostel seltsamer Glaubenslehren sammeln. Es ist aber zu einfach, sich darüber nur zu mokieren. Wir brauchen einen Neustart im Verhältnis zwischen Corona-Krisenmanagern und Bevölkerung, zwischen Geimpften und Ungeimpften. Diesen Neubeginn gibt es, wie in persönlichen Beziehungen auch, nur mit dem echten Eingeständnis, dass an dem Schlamassel nicht immer nur alle anderen schuld sind, sondern man selbst auch eines dazu beigetragen hat.
Früher war nicht alles gut
Wir haben schwierige Jahre hinter uns – und sicher auch vor uns. Die politischen und sozialen Verwerfungen auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft schaffen wir nicht, wenn wir ständig streiten und spalten. Wir sind erwachsen. Wir können innehalten. Wir brechen wegen ein paar offener Fragen nicht gleich zusammen. Wir können Irrtümer nachsehen. Unter Umständen können wir uns eines Tages impfen lassen, weil sich das in einer Pandemie so gehört, ohne großes Trara und ohne einer Minderheit, die das vielleicht anders sieht, damit zu drohen, dass sie im Ernstfall kein Spitalsbett kriegt. Womöglich kriegen wir sogar den Abschied von den 100-Prozent-Illusionen hin und schaffen es, mit Impfgegnern auch über „ihre“ Themen zu reden: Demokratie, Bevormundung, Pharmakonzerne. Eine 80-prozentige Durchimpfung ist für eine liberale Gesellschaft auch schon bemerkenswert. Wir könnten davon Abstand nehmen, verbleibende Corona-Leugner auf Biegen und Brechen in die Impfstraßen zu zwingen. Stattdessen könnte man sich bei ihnen erkundigen, was sie beizutragen haben: Vielleicht sind Fitnesstrainer darunter, die beim Abnehmen helfen können. Fettleibigkeit ist einer der höchsten Risikofaktoren für einen schweren Covid-19-Verlauf. Vielleicht gibt es Freiwillige für die Rettung oder die Altenheime. Auch dafür gibt es Instrumente. Der Politikwissenschafter Bernhard Perchinig etwa denkt an „moderierte Versöhnungskonferenzen“. Zugegeben, das alles wäre dann schon sehr erwachsen. Vor allem erhöht es die Chance, dass wir nicht in die alte Normalität zurückkehren. Früher war nicht alles gut. Angesichts von Pandemien und Klimakrisen, die uns aller Voraussicht nach noch heimsuchen, kann einiges ruhig noch besser werden.
Edith Meinhart, Profil Nr. 51/52 vom 19.12.2021
ELFRIEDE HAMMERL
Glaub an dich! – Wie die Impfgegner:innen Selbstvertrauen mit Größenwahn verwechseln.
Nicole sagt, sie wollte eigentlich Sängerin werden, aber ihre Eltern haben nicht an sie geglaubt. Statt sie zu unterstützen, haben sie gesagt, sie singt falsch. Das hat ihre Wunschkarriere verhindert. Unter uns: Ich denke auch, dass Nicole falsch singt. Meiner Meinung nach ist sie musikalisch wie ein Holzschuh. Darf man einem Menschen sagen, dass er falsch singt, wenn er falsch singt?
Nein, darf man nicht. Der Mensch muss ja an sich glauben. Und daran, dass er alles erreichen kann, wenn er nur will. Nicole glaubt, dass sie dank heftigem Wollen das dreigestrichene C erreicht hätte. Ihre Eltern waren der hinderlichen Überzeugung, dass das dreigestrichene C nicht jeder singenden Person gegeben ist.
Nicole macht es besser als ihre Eltern. Sie ermutigt ihre Kinder. Pausenlos. Unentwegt. Was sie machen, machen sie nicht nur gut, sondern außerordentlich gut, Nicoles bedingungsloser Beifall ist ihnen sicher. Schätzchen, du bist eben was Besonderes!, sagt sie zu ihrer Tochter. Und dass die Spanischlehrerin eine blöde Kuh ist, weil sie das nicht erkennt.
Meiner Ansicht nach ist Nicoles Tochter allenfalls besonders faul, aber ich meine ja auch, dass man Vokabeln lernen muss, statt daran zu glauben, dass sie einem schon zufliegen, wenn man vor Netflix sitzt. Wahrscheinlich bin ich eine frustrierte Alte, die keine internationale Bestsellerautorin geworden ist, weil sie nicht an sich geglaubt hat.
Jetzt höre ich, Nicole lässt sich nicht gegen Corona impfen, und es wundert mich nicht. Ich bin gesund, sagt sie. Mein Immunsystem ist super. Mir kann nichts passieren. Ich bin was ganz Besonderes. Ich zweifle, dass Omikron sich davon abschrecken lässt, doch wer gibt schon etwas auf meinen krankhaften Pessimismus? Na eben.
Nicole ist jedenfalls in zahlreicher Gesellschaft, das steht fest. Diese Gesellschaft ist zwar bei Weitem nicht so zahlreich, wie sie von sich behauptet, aber doch ausreichend laut und lästig. Freiheit!, schreien Nicole & Co und reißen sich – und auch anderen – die Masken vom Gesicht. Sie nehmen sich die Freiheit, den freien Willen derer zu attackieren, die lieber eine Maske tragen möchten, als angesteckt zu werden, aber darin sehen sie keinen Widerspruch.
Was geht in ihnen vor, wenn sie in die Kameras grinsen und sagen: Ich glaube nicht an das Virus. Ich glaube nicht an eine Pandemie. Ich kann nicht krank werden!?
Überqueren sie vor dem herandonnernden Railjet die Eisenbahngleise und sagen: Ich glaube nicht an Züge!? Springen sie aus dem zehnten Stock, weil sie ihre Gesundheit für unzerstörbar halten? Vielleicht, demnächst, wer weiß.
Zuversicht ist gut, aber man kann es damit auch übertreiben. Und sobald sie anfangen, andere aus dem zehnten Stock zu schubsen, wird es richtig ärgerlich. Ach so, richtig, sie haben schon damit angefangen! Sie greifen medizinisches Personal an, blockieren Krankenhauszufahrten, gehen auf Kameraleute los, belästigen Reporter:innen. Denn sie wollen endlich ihr altes Leben zurück! Geht nicht? Es wird ihnen gar nicht mutwillig vorenthalten? Lügenpresse!
Im Ernst: Natürlich sind Ermutigung und Zuversicht nützlich und notwendig, und an sich selbst zu glauben, ist besser, als an gottgewollte Hierarchien zu glauben, die nicht infrage gestellt werden dürfen. Niemand will die schwarze Pädagogik zurück, die Kinder ständig auf ihre – tatsächlichen oder angeblichen – Defizite hinwies, niemand sehnt sich nach den Zeiten, als der Selbstwert durch die Gnade oder, häufiger, Ungnade der Geburt definiert wurde. Aber zwischen Selbstvertrauen und Größenwahn ist halt ein gewaltiger Unterschied.
Darf man einem Menschen sagen, dass er falsch singt, wenn er falsch singt?
Ironischerweise ist es mittlerweile der viel beschworene Glauben an sich selbst, der neuerlich dazu dient, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, und seien sie noch so ungerecht, zu legitimieren. Glaub an dich. Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst. Erreichst du es nicht, hast du nicht genügend an dich geglaubt. Misserfolg ist selbst verschuldet.
Und schon sind diejenigen, die die Rahmenbedingungen zu verantworten haben, üblicherweise aus dem Schneider. Dass sie ausgerechnet jetzt für etwas zur Verantwortung gezogen werden, wofür sie ausnahmsweise nichts können, nämlich eine Pandemie, ist erneut eine ironische Wendung.
Nicole übt sich jedenfalls weiterhin in Realitätsverweigerung, obwohl sie auf die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit erst kürzlich gestoßen ist, als sie vergeblich versucht hat, sich in eine Jeans der Größe 27 zu zwängen. Bestimmt hat sie eisern daran geglaubt, dass sie schon irgendwie hineinpassen wird, aber: leider, nada.
Ihre Empörung richtet sich mittlerweile vor allem dagegen, als Ungeimpfte aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Das geht nicht. Dagegen muss sie schärfstens protestieren. Na ja, sage ich, ich möchte im Theater nicht neben einem sitzen, der eine geladene und womöglich entsicherte Pistole in der Hand hat. So jemand sollte ausgeschlossen werden, finde ich. Du nicht? Sie versteht nicht, was ich meine. Das habe ich befürchtet.
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