Faul. Ungebildet. Desinteressiert. Selber schuld. Als Kind von zwei Langzeitarbeitslosen weiß Anna Mayr, wie falsch solche Vorurteile sind – was sie nicht davor schützte, dass ein Leben auf Hartz IV ein Leben mit Geldsorgen ist und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Früher schämte sie sich, dass ihre Eltern keine Jobs haben. Heute weiß sie, dass unsere Gesellschaft Menschen wie sie braucht: als drohendes Bild des Elends, damit alle anderen wissen, dass sie das Richtige tun, nämlich arbeiten. In ihrem kämpferischen, thesenstarken Buch zeigt Mayr, warum wir die Geschichte der Arbeit neu denken müssen: als Geschichte der Arbeitslosigkeit. Und wie eine Welt aussehen könnte, in der wir die Elenden nicht mehr brauchen, um unseren Leben Sinn zu geben.
Wir leben und arbeiten so, weil wir in einer Welt leben, die von den Kategorien Ware, Lohnarbeit und Wert beherrscht werden; wobei diese Konzepte nicht nur in unserer Wahrnehmung zu einer Art vermeintlich unverrückbarem Naturzustand geronnen sind, sondern auch materiell in einer historischen Herausbildung gesellschaftlicher Arbeitsteilung.
Wenn man diesen Zustand, der soziale Ungleichheit verantwortet, auflösen möchte, reicht es deshalb nicht, sich um Vorurteilsfreiheit zu bemühen. „Es wirkt schnell peinlich, links zu sein – manchmal habe ich das Gefühl, es ist kaum möglich, von einer gerechteren Welt zu sprechen, ohne sich selbst dafür ein bisschen zu verachten“, schreibt Mayr. Vielleicht ist es auch dieses Gefühl, das sie daran hindert, die Fragen etwas grundsätzlicher zu stellen. Aber auch das ist nachvollziehbar. In einer Zeit, in der es als mutig gilt, sozialdemokratische Forderungen zu stellen, gelten jene als komplett verrückt, die mehr als das fordern.
Christian Aichmayr hat ihr Buch gelesen und präsentiert in seinem Beitrag Auszüge aus diesem sowie auch eine Zusammenfassung aus diversen Rezensionen. Das Buch provoziert, aber das ist auch gut so. Vieles was Anna Mayr beschreibt, kann als realistisch angesehen werden. Kurz streift er auch die Situation in Österreich, wo ständig von einer Höhe von 55 % der Nettoersatzrate (also des Letztbezuges im Arbeitsverhältnis) des Arbeitslosengeldes offiziell die Rede ist, dies aber schon auf Grund des vorgegebenen Berechnungsrahmens im Regelfall niemals erreicht werden kann (außer in speziellen Sonderfällen, wo sonst ein absolut geringer AMS-Bezug entstehen würde). Die aktuellen Vorstöße der SPÖ, der AK und der Gewerkschaft, das Arbeitslosengeld auf 70 % Nettoersatzrate anzuheben, sind löblich – zeugen aber von wenig Wissen über die tatsächlichen Gegebenheiten der jetzigen Situation. Denn würde tatsächlich 55 % Nettoersatzrate des Letztbezuges zum Tragen können, wäre das schon eine Verbesserung im Hinblick auf die Höhe des AMS-Bezuges.
„Die Elenden – Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht“, Hanser Berlin, Berlin 2020, ISBN 9783446268401, Gebunden, 208 Seiten, 20,60 EUR in Österreich
Christian Aichmayr
Um gleich einen besseren Einblick in das Buch zu geben, präsentiere ich hier den Text des Radiobeitrages:
„Die Elenden“ … das sind in Mayrs Buch die Arbeitslosen. Jene, die das Gefühl haben, auf Kosten anderer Menschen und der Gesellschaft zu leben. Die sich abgewöhnen müssen, Wünsche zu haben, und die Haltung einnehmen, sie hätten im Leben nichts verdient. Das hat Anna Mayr in ihrer Kindheit und Jugend so empfunden, denn ihre Eltern sind beide Langzeitarbeitslose und sie selbst wurde mit Hartz IV groß. Heute ist sie Journalistin bei renomierten Zeitschrift „Die Zeit“ und hat in ihrem Buch „Die Elenden“ über ihre eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Einschätzungen zum Thema „Arbeitslosigkeit und Hartz IV“ geschrieben – und auch darüber, warum eine Gesellschaft Arbeitslose immer brauchen wird.
Ihr Vater ist eigentlich Tischler, ihre Mutter war Punk und Studentin, bis sie dann schwanger wurde. Als sie als Jugendliche das erste Mal ihr eigenes Geld verdienen wollte, durfte ihr Verdienst 100 Euro im Monat nicht überschreiten – jeder Cent mehr wäre mit dem Hartz IV Satz gegenverrechnet worden.
Später bekam sie ein Stipendium und konnte studieren. „Warum sind deine Eltern arbeitslos?“ ist eine Frage, die sie ganz schlimm findet. Oder Aussagen wie: „Da hast Du dich aber hochgekämpft.“ Die Autorin hasst solche Kommentare. „Denn das malt meine Kindheit wie ein Loch der Schande – und das war sie überhaupt nicht“, sagt sie.
Der französische Schriftsteller Victor Hugo schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts mit „Les Misérables“, die Elenden, einen der bekanntesten Sozialromane. In seinem Buch zeigte er die Lage der Verarmten unter dem Eindruck der beginnenden Industrialisierung. Genau den gleichen Titel hat Mayrs Buch. Wieso dieses Wort „Elend“? “ Weil in diesem Wort Unschuld drinnen steckt, wie aber auch das Verelenden und dann auch noch das allein gelassen sein, meint die Autorin.
Allein das Wort „arbeitslos“, meint sie, definiere Menschen allein durch das, was sie nicht haben und schließe sie damit davon aus, sich selbst als sinnvoll anzusehen. Dabei haben auch Arbeitslose ihre Funktion in der Gesellschaft. Ihre These: Armut ist politisch gewollt. „Wir grenzen uns von den Arbeitslosen ab, und dafür brauchen wir sie. Und damit wir uns von ihnen abgrenzen können, brauchen wir auch ihr Leid. Also es muss diese Leute geben, die unten sind, die nicht arbeiten, damit wir uns versichern können, dass wir das richtige tun, nämlich Arbeiten. Also Nichtarbeiten muss sinnlos sein, muss schlecht sein, muss mit Scham belegt sein, damit Arbeiten das Gute ist, das Tolle, und das, was ein rechtschaffender Mensch zu tun hat.“
Und sie führt dazu aus: „Unser Denken formiert sich in Dichotomien, klaren Gegensätzen. Wenn es das Gute gibt, muss es auch das Böse geben. Wenn es das Richtige gibt, dann muss es auch das Falsche geben. Wenn es Sinn gibt dann muss es auch einen Nicht-Sinn geben. Und der personifizierte Nicht-Sinn, das Negativ dessen, was wir als „Normalität“ empfinden, ist der Arbeitslose. Der Kapitalismus braucht die Arbeitslosen als Ressource. Die Bourgeoisie braucht die Ideologien über den Arbeitslosen, die Klischees, die RTL-Sendungen, über das Leben von Hartz IV-Empfängern, bei denen wohlige Schauer am Rücken herablaufen um sich dann selbst zu versichern, als Nicht-Arbeitsloser auf der richtigen Seite zu stehen. Der Arbeitslose bestätigt den Sinn der Arbeit. Indem wir jemanden identifizieren, der falsch lebt, wissen wir dass wir richtig leben – indem wir arbeiten!
Mehr noch: Nach Sündenbockprinzip projizieren wir unsere Ängste vor Abstieg, Elend und Scheitern auf eine Gruppe von Menschen, von denen wir uns dann abgrenzen können, die sich – verstärkt durch mediale Klischeeisierung – als „Arbeitslose“ gleichsam essentiell von „uns Arbeitenden“ unterscheiden: ein soziales Angstventil. Daneben haben Arbeitslose aber auch ganz praktisch den Zweck, der „Wirtschaft“ und das heißt den Besitzenden in dieser „Wirtschaft“ nach deren Konditionen zu Diensten sein zu müssen: Sie existieren, „damit es ein paar Doofe gibt, die auf Abruf günstig bereitstehen“.
Erst in dem Moment, in dem die Menschen realisieren, dass der Kampf untereinander, der Kampf um die Arbeitsplätze vergeblich ist, wird das Versagen des Systems kurz zur gemeinschaftlichen Realität. In der Geschichte hat sich gezeigt, dass sich die Umstände für die Arbeitslosen immer dann verbesserten, wenn es besonders viele von ihnen gab. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs im Jahr 1918 wurde in Deutschland eine Erwerbslosenfürsorge eingerichtet, denn schließlich gab es mehrere Millionen Soldaten, die nun nichts mehr mit sich anzufangen wussten. Aber auch bedürftige Frauen, die selbst für ihr Auskommen sorgen mussten, konnten diese Fürsorge beantragen.
Und Anna Mayr überlegt: Wenn allerdings das Abgrenzungspotential wächst, wenn es also wenig Arbeitslose gibt, dann werden die Arbeitslosen zum abschreckenden Beispiel. Denn sie tun nichts was Sinn macht, und sie tun nicht einmal etwas Sinnloses um der Sache wegen. In denen, die nicht arbeiten, wird nicht nur das „was wäre wenn“ erkennbar, sie halten also nicht nur alle anderen dazu an, zu arbeiten. Sie sind auch das einzige Element innerhalb des Gefüges der Lohnarbeit, welches der Arbeit noch irgend einen Sinn gibt. Das Klingt komisch, ist aber so.
Denn der Glaube, der früher die Arbeit wichtig machte, ist erstens längst nicht mehr so wichtig wie er einmal war. Zwar gibt es noch ein Überbleibsel der calvinistischen Ideen in unseremn Denken, aber die Angst vor der Hölle ist längst nicht mehr der Grund, warum Menschen morgens aufstehen, um zur Arbeit zu gehen.
Zweitens ist die Arbeit selbst kein gemeinsames Menschheitsprojekt mehr, da es zu viele Arbeiten gibt, die sinnmäßig recht unbefriedigend sind.
Um der Arbeit und dem Leben einen Sinn zu geben, braucht man also eine Verkörperung von Sinnlosigkeit. Wenn eine Sache sinnlos ist, dann wird ihr Gegenteil sinnvoll und richtig. Wer nicht arbeitet, dessen Leben ist sinnlos. Wer nicht arbeitet der hat nichts, er hat ja keinen Beruf. Wenn aber Arbeit dem Leben einen Sinn gibt, dann bedeutet Nicht-Arbeit, das man gesellschaftlich bereits tot ist. In den Arbeitslosen von heute erkennen wir immer noch die Spuren von Lepra, den Wahnsinn der Verlendeten. „Armut ist politisch gewollt“.
Der Arbeitslose ist uns unheimlich. Und zwar auf eine Weise, wie Siegmund Freud „das Unheimliche“ beschrieben hat: Als das Verhängnisvolle und Unentrinnbare, welches uns aber gleichzeitig bekannt ist, beziehungsweise das sich in uns bekannten Strukturen und Räumen ereignet. Das Unheimliche wird nach Freud geradezu dadurch unheimlich, weil es ein Teil unserer Welt ist. Der Arbeitslose ist genau das – Ein Teil unserer Welt, weil er ja unverkennbar anwesend und menschlich ist und wir auch selbst unverschuldet arbeitslos werden könnten. Deshalb ist uns der Arbeitslose unheimlich, deshalb weichen wir ihm aus, belegen seine Existenz mit Scham, machen ihn zum Aussätzigen – wir halten ihn fern, weil er uns zu nahe ist.
Arbeitslose hingegen haben keine Abstiegsängste. Sie sind von der Angst befreit, ihre Existenz zu verlieren, weil sie von dem ausgeschlossen sind, was wir als Existenz verstehen. Sie haben keine Funktion im Lohnarbeitsgefüge, keine gottgegebene Berufung, und auch die Wahlfreiheit bei all den Produkten, die der Kapitalismus hervorbringt, können sie kaum genießen, denn für sie bleibt eben allerhöchstens das Billigste. Ihr Leben ist ohne Arbeit sinnlos und unser gesamtes soziales Sicherungssytem ist darauf ausgelegt, sie immer wieder darauf hinzuweisen.
Die größte Frage im Leben eines Arbeitslosen soll die sein, wie er wieder an Arbeit kommt – es ist also die Frage nach der Vermittelbarkeit, die in Wirklichkeit vom Jobcenter und von der Sitaution auf dem Arbeitsmarkt bestimmt wird. Verrückt wäre es, die Frage nach eigenen Wünschen für die Zukunft zu stellen, ohne eine Arbeit zu haben. Also nach Wünschen, die irgendetwas anderes sind als der Wunsch nach Arbeit. Das wäre, als würde sich jemand, der ohne Beine geboren wurde, permanent wünschen, spazieren zu gehen: Ein schmerzhafter Wunsch, den man lieber verdrängen sollte. So verliert der Arbeitslose langsam das Selbstverständnis, das er vielleicht einmal hatte, oder er bekommt erst gar nicht die Chance, es auszubilden.
Zur politischen Situation in Deutschland beschreibt sie: Es ist ein beliebtes Vorurteil, dass Hartz IV Empfänger und Menschen, die man als Unterschicht bezeichnet, besonders häufug AfD und andere rechte Parteien wählen. Den Erfolg der AfD mit dem Wahlverhalten von Arbeitslosen zu erklären ist allerdings schon rechnerisch verrückt. Im Dezember 2018 waren von 5,8 Millionen sogenannten Leistungsberechtigten, also in diesem Fall Empfängern von Arbeitslosengeld, etwa 1,9 Millionen Kinder unter 18 Jahren, die überhaupt nicht wählen dürfen. Das Milieu der „Abgehängten“, das ergab eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, wählt zwar häufig rechts, ist aber sehr klein, nur etwa 5 Prozent der Bölkerung zählen dazu – und von diesen 5 Prozent geben 60 Prozent an, überhaupt nicht zu wählen. Der Rechtsruck in Deutschland liegt also auf keinen Fall allein oder auch nur wesentlich an den Arbeitslosen, denn sie können schon rein zahlenmäßig keinen politischen Druck ausüben. Selbst wenn alle Hartz-IV-Empfänger im Land eine einzige Partei wählen würden, bliebe diese unter der Fünf-Prozent-Hürde.
Im Buch enthalten ist einerseits eine Mischung aus persönlichen Erfahrungen und Anekdoten und andererseits fundierten Analysen und historischen Rekonstruktionen. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit in Deutschland betrachtet sie vor allem aus soziokultureller Perspektive.
Sieben Kapitel umfasst Anna Mayrs Buch „Die Elenden“: In jedem davon geht es auch um ideologische Betrachtungen, wie zum Beispiel „Warum der Aufstieg kein Ausweis einer gerechten Gesellschaft ist“.
Entlarvt wird dabei das Narrativ der sozialen Aufsteiger als zynisches Machtinstrument der Oberschicht: So ist es einfacher, den Anspruch der Armen auf ein besseres Leben mit „Chancen“ vorzutäuschen um dann die wenigen Aufsteiger ins Rampenlicht zu rücken und die vielen Gescheiterten „selbst schuld“ sein zu lassen, als ihnen tatsächlich umfassend zu helfen.
Dazu meint sie konkret: „Diese Haltung ist nichts als eine Entschuldigung der Menschen, die über das Schicksal der armen Kinder entscheiden. Für diese Menschen wäre eine systematische Ermöglichung von Aufstieg zu aufwändig und zu teuer – und dann müsste man anerkennen, dass aufgrund der Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft Tausende Kinder zurückbleiben, die ohne soziales und kulturelles Kapital aufwachsen und ohne ein Umfeld, das ihnen die Hand reicht“. Dies wird im heutigen Beitrag noch etwas näher beschrieben …
Wie hier deutlich wird, betrachtet Mayr Arbeitslosigkeit von Anfang an aus einem systemischen Winkel: „Die Sache ist: Unsere Lebensgeschichten gehören uns nicht allein. Sie finden innerhalb eines Systems statt, welches bestimmte individuelle Geschichten braucht, um als Ganzes zu funktionieren“. Wenn sie Themen wie die Klimaerwärmung streift und dabei meint, dass Verzicht auf etwas, zuerst einmal Besitz voraussetzt, auf den man dann auch im Sinne einer besseren Welt verzichten kann, liegt sie natürlich nicht falsch.
Arbeitslose stellen kein einheitliches Milieu dar: Arbeitslos ist die alleinerziehende Krankenschschwester, die nicht in ihren Job zurückkann, bis ihr Kind einen Kitaplatz hat. Arbeitslos ist die Abiturientin, die nicht weiß, was sie studieren soll, und deshalb ein Jahr lang mit dem Geld ihrer Eltern um die Welt reist. Arbeitslos sind Menschen, die früher einmal wohlhabend waren und dann krank geworden sind. Arbeitslsoe sind Konservative und Anarchisten, Homophobe und trans Personen, Kinder von guten und von schlechten Eltern. Statistisch gesehen haben viele Hartz-IV-Empfänger einen Migrationshintergrund sind aber gleichzeitig auch besonders viele Hartz IV-Empfänger Kinder – was ekelhaft und traurig ist, uns über Arbeitslosigkeit allerdings erst einmal nichts sagt.
Arbeitslose bilden keine Einheit. Eine solche entsteht, sowieso meistens erst dann, wenn Menschen einen gemeinsamen Feind haben. Wenn es jemanden gibt, der den Frieden der Gruppe stört. Die Arbeitslosen haben keinen Frieden, der sich stören ließe, Alles was sie teilen, sind die Symptome der Deprivation: Not, Ohnmacht. Sie haben das Jobcenter, das sie versorgt und überwacht. Sie haben Wohnungen, die für zwei Personen nicht mehr als 60 Quadratmeter haben und für fünf Personen nicht mehr als 680,– €uro Kaltmiete kosten dürfen. Und fast allen Menschen, denen sie im Alltag begegnen, dienen sie als Projektionsfläche für Abstiegsängste. Gegen welchen Feind sollten sie sich sinnvoll verbünden? Die Welt an sich?
Für all jene, die jeden Morgen aus dem Haus gehen müssen, um eine Arbeit zu verrichten, die sie womöglich hassen, um eine Wohnung zu bezahlen, mit der sie nicht zufrieden sind, wäre es eigentlich eine sinnvolle politische Forderung, die Arbeitslosen besser zu stellen, um sich selbst die Angst vor dem Abstieg zu nehmen. Und dennoch fällt es manchen leichter, sich gegen diejenigen zu verbünden, die nicht arbeiten. Vor allen natürlich gegen Flüchtlinge. Die sozialschmarotzenden, frauenbegrapschenden, saufenden Flüchtlinge, die Almosen aus Steuergeldern bekommen. Die Angst vor Fremden, die Angst vor Schmarotzern, die Angst die der Kapitalismus aufgrund der Konkurrenz entstehen lässt, der wir alle unterworfen sind, macht es den Leidenden unmöglich, sich in irgendeiner Weise zu verbünden.
Wer keine Arbeit hat und etwas anderes im Leben will als Arbeit, gilt als moralisch verwerflich, Wer vom Jobcenter als „erwerbsfähig“ eingestuft ist und trotzdem nicht erwirbt, wer als „arbeitssuchend“ gilt und nichts findet, der muss den gesellschaftlichen Standards nach „zuallerst arbeiten wollen“. Andere Willensregelungen sind nicht erwünscht. Lebensentscheidungen haben immer auf die Erlösung der Arbeitslosigkeit ausgerichtet zu sein.
Wer keine Arbeit und kein Geld hat, der weiß irgendwann nicht mehr, wie man sich etwas wünscht, wie man etwas will. Ihm fehlen die Protokolle, die Verhaltensstandards. Und er findet keine Gruppe, zu der er gehören könnte. Das liegt auch daran, dass sie Arbeitslosen sich keine Identität herbeikonsumieren können. Identität wird in unserer Gesellschaft maßgeblich durch Konsum konstruiert. Arbeitslose sind nur Arbeitslose. Alles andere können sie sich nicht leisten!
Wer nun sagt, die Arbeitslosen könnten sich ja ehrenamtlich engagieren, Bilder malen, stricken oder tanzen lernen, verkennt die Realität, die ein Leben im Nicht-Sinn bedeutet. Hobbys sind in unserer gesellschaft zum Zweck der Erholung gedacht. Wenn Arbeitslose ein Hobby haben, setzen sie sich dem Vorwurf aus, diesem nachzugehen, anstatt zu arbeiten. Dem Arbeitslosen können wir keine Mehrdimensionalität zugestehen, da ihm die erste Diemension dessen, was zu einem Leben gehört, schon fehlt: Die Arbeit! Jedes Hobby, das der Arbeitslose aufnimmt, wird sich automatisch an der allgemein angenommen Sinnhaftigkeit einer Lohnarbeit messen müssen.
Und Anna Mayr kann durchaus sehr scharf formulieren: Arbeitslosigkeit ist dazu gedacht, Leben zu erschweren und zu zerstören. Sie würde sonst nicht ihre Funktion erfüllen, die darin besteht, Menschen zum Arbeiten zu bringen. Wahrscheinlich bin ich also nicht allein mit meiner Grundangst vor dem Leben – meint sie – wir alle tragen sie in uns: Die Angst vor dem Abstieg, vor dem Scheitern, vor dem Nicht-wieder-Aufstehen. Ich glaube, die meisten Menschen verdrängen diese Angst nur mehr oder weniger erfolgreich, in dem sie sich einreden, sie hätten mit denen da untern, mit den Gescheitern, mit dem Abschaum nichts zu tun! Ich kann das nicht.
Und dann setzt sie fort: Es ist die Armut, die krankmacht. Armut nimmt Familien die Handlungsfähigkeit. Armut sorgt dafür, dass manche Kinder zum Ballettuntunterricht gehen können und andere nicht. Dass manche Kinder in Häusern mit Gärten aufwachsen und andere nicht, dass manche Eltern einen Freundeskreis haben, der den Kindern zum Geburtstag gratuliert, ihnen Geschenke machet, und andere nicht. Dass manche Kinder am Leben teilnehmen und andere nicht. Arbeitslosigkeit uund ihre Stigmatisierung entzieht erwachsenen Menschen die Verfügungsgewalt über sich selbst – dass dieselben Erwachsenen daran scheitern, ihre Kinder zu funktonierenden Mitgiedern der Gesellschaft zu erziehen, sollte eigentlich niemanden wundern.
Man darf sich nun völlig naiv fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, Menschen erst gar nicht finanziell und sozial verelenden zu lassen, um dann später zu versuchen, sie mit großem finanziellen Aufwand und wenig Erfolg aus ihrem Elend zu retten. Ob es also nicht nachhaltiger wäre, die Milliarden, die für Jugendhilfe ausgegeben werden, einfach in die Familien umzuverteilen, in denen arme Kinder aufwachsen. Aber das würde ja wirken, als bekämen die Armen etwas geschenkt.
Die Güte, die unsere Gesellschaft gegenüber Arbeitslosen zeigt, ist keine echte Güte. Sie ist vielmehr ein Akt, den man für notwendig hält, damit das Elend der anderen für die Mehrheit nicht zu belastend wird. Es existiert keine geteilte Vorstellung von Großzügigkeit den Armengegenüber, stattdessen gibt es eine Verwaltung, die austariert, wie sehr Menschen leiden können, bevor es lästig wird.
Es gibt kein Höchsteinkommen für Kindergeld. Jedes Kind hat einAnrecht darauf. Nur die Kinder von Arbeitslosen bekommen faktisch kein Kindergeld, weil es auf deren „Bezüge“ angerechent wird: Kindern steht ein bestimmter Hartz IV Regelsatz zu, aber das Jobcenter überweist diesen Regelsatz nicht komplett, sondern zahlt nur die Differenz zwischen Regelsatz und Kindergeld. Einem einjährigen Kind von Arbeitslosen stehen zum Beispiel € 250,– Hartz IV monatlich zu. Jedem einjährigen Kind stehen € 204,– Kindergeld zu. Das heißt, dass ein einjähriges Kind € 46,– Hartz IV bekommt – den Rest seiner Ausgaben kann es ja aus seinen eigenen Einnenahmen bestreiten.
Kindern die arm sind, fehlt Geld. In Hartz IV Familien gibt es keinen Urlaub. Die Knappheit bestimmt das Leben. Wer mit Hartz IV aufwächst, der lernt, dass es nicht um materielle Dinge geht. Nicht etwa weil Besitz nicht gottgefällig wäre oder es irgend jemanden jucken würde, wenn doch. Sondern weil materielle Wünsche bei den Eltern traurige, überforderte Blicke auslösen. Zugunsten des familiären Friedens gewöhnen Kinder sich also Wünsche ab.
Da die Einkommensgrenze für Nebenjobs auch für „arbeitslose“ Kinder gilt, werden diese Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit nicht lernen, dass Arbeit sich lohnen kann. Sie werden nicht lernen, wie es sich anfühlt, einen Gewinn zu erwirtschaften. Die Strukturen des bloßen Überlebens, in denen sie gefangen sind, weil sid Kinder sind, schließen sie also vom Erlernen der grundlegenenden Funktionsweise einer kapitalistischen Gesellschaft aus.
Eine Idee davon zu habenn dass einem Freude abseits des Überlebens zusteht, das allein ist ein Privileg, das den Kindern von Arbeitslosen vorenthalten wird. Es muss ihnen sogar enthaltenbleiben, weil das Leid ihrer Eltern eine gesellschaftliche Funktion hat – und das Leid der Elternbedeutet immer auch das Leid der Kinder. So ist Familie.
Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Das gilt als bedauerlich – sichtbarer Protest dagegen rührt sich kaum. Auf die Straße treibt die Empörten heute der Klimawandel, die Überforderung durch Zuwanderung oder der gewaltsame Tod eines schwarzen Bürgers der Vereinigten Staaten, aber nicht die Nöte armer Kinder aus Hartz-IV-Familien.
Mir persönlich haben ihre Zeilen zum Thema „Chancengleichheit“ sehr entsprochen – denn diese gibt es in der Realität ja nicht wirklich: „Chancengleichheit“ ist deshalb ein bescheuertes Wort, genau wie „Chancengerechtigkeit“. Es sind Begriffe, die zu verschleiern versuchen, wie weit entfernt wir von wirklicher Gleichheit und Gerechtigkeit sind. Eine Chance ist am Ende nämlich auch nur ein Almosen. Wer eine Chance geben kann, ist bereits mächtiger als derjenige, der die Chance erhält, und wer eine Chance nicht nutzt, der gilt als Versager. Chancen sind Filter, bei denen diejenigen unten herausfallen, die nicht genug Kraft haben. Wer davon spricht, eine Chance zu bekommen, der sieht sich selbst als unwürdig an.
Das bedingungslose Grundeinkommen hat in ihren Überlegungen wenig Platz, denn statt gesellschaftliche Ungleichheit aufzuheben, wie das wirkliche sozialstaatliche Umverteilung täte, wäre bei einem bedingungslosen Grundeinkommen wohl im Auge zu behalten, die Mittelschicht nicht allzu neidisch zu machen, wenn Arbeitslose auch mal etwas bekämen.
Vielmehr setzt sie auf gerechte Wut: „Was wir auf jeden Fall brauchen, ist Wut. Wut anstelle von Angst“. Die immer empörender werdende Ungleichheit müsse langsam in Empörung im ursprünglichen Sinne umschlagen, statt weiter aufgrund hausgemachter Abstiegsängste nach unten zu treten, in den hausgemachten Abgrund. Begriffe wie „Leistung“, „Bildung“ und „Chance“ müssen entmystifiziert werden. Das einzige was gegen Armut wirklich helfe ist „mehr Geld“. Dabei blendet sie die Realität keineswegs nicht aus. Nicht friedliche Revolutionen, sondern immer nur Katastrophen wie Seuchen oder Kriege haben historisch als Katalysatoren wirtschaftlicher Umverteilung gewirkt. Vielleicht könnte man also im Rahmen der gegebenen Covid-19 Krise eine Veränderung der gegebenen Situation bewirken.
Mit Jänner 2021 stieg der Hartz IV Satz um sieben Euro. Es verändert sich über die Jahre, was für eine Teilhabe in der Gesellschaft nötig ist. Darunter fiel bei Kindern bisher nicht der Laptop, den sie brauchen, um digital am Unterricht teilzunehmen – was das bedeutet, hat die Covid-19-Krise nun gezeigt. Krise, und das steckt schon in dem Ursprung des Wortes selbst, dem griechischen Krisis, bedeutet nicht nur Zuspitzung, Entscheidung, sondern auch die Chance auf einen Neuanfang.
Ich habe Anna Mayrs Buch „Die Elenden“ mit großem Interesse gelesen. Natürlich beschreibt sie die darin die Situation in Deutschland, aber selbstverständlich kann vieles davon auf Österreich heruntergebrochen werden.
In Österreich erlebe ich die Situation um die Höhe des Arbeitslosengeldes ja völlig eigenartig: Aktuell gibt es ja seit der Covid-19 Krise speziell seitens der SPÖ Versuche, das Arbeitslosengeld auf 70 % Nettoersatzrate zu erhöhen. Nach der offiziellen Sprachregelung beträgt die aktuelle Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes nur 55 % des Letztbezuges aus dem Arbeitsverhältnis. Aber das ist nur die offizielle Sprachregelung, welche mit der Höhe des realen Bezuges nicht wirklich etwas zu tun hat! Kein Arbeitsloser in Österreich erhält im Regelfall 55 % seines letzten Gehaltes oder Lohnes – das geht gar nicht, weil der Berechnungsrahmen des Arbeitslosengeldes vorgibt, auf einen früheren Zeitpunkt des Verdienstes zurückzugreifen. Demnach klafft zwischen dem was öffentlich diskutiert wird und dem was tatsächlich an Arbeitslosengeld bezogen wird eine Lücke von einigen Prozentpunkten.
So trat zuletzt per 1. Juli 2020 eine bereits seit langem geplante Änderung im Arbeitslosenversicherungsgesetz in Kraft. Während bisher bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes je nach Zeitpunkt der Antragstellung auf das Einkommen aus dem letzten bzw. dem vorletzten Kalenderjahr abgestellt wurde, wird nun seit dem 2. Halbjahr 2020 auf den individuellen Tag der Antragstellung Bezug genommen.
Konkret heißt das Folgendes: Die Berechnungsgrundlage sind die letzten 12 monatlichen Beitragsgrundlagen vor Ablauf einer (12-monatigen) Berichtigungsfrist. Liegen weniger als 6 Monate mit endgültigen Beitragsgrundlagen vor, werden auch Kalendermonate, die innerhalb der Berichtigungsfrist liegenden, herangezogen.
Wenn nun eine Arbeitslosenmeldung beim AMS im Juli 2021 erfolgt, gibt es eine 12-monatige Berichtigungsfrist bis einschließlich Juli 2020. Die konkrete Berechnungsgrundlage greift aber auf den Zeitraum Juli 2019 bis Juni 2020 zurück.
Damit ist klar, dass es nie und nimmer um 55 % des letzten Monatsbezuges des letzten Arbeitsverhältnisses geht! Das ganze ist ein wunderbares Beispiel, wie Arbeitslose in Österreich tagtäglich ganz bewusst mit falschen Zahlen regelrecht zum Narren gehalten werden! Würden sie tatsächlich 55 % des Letztbezuges erhalten, wäre das schon eine kleine spürbare Verbesserung gegenüber ihrer Höhe des berechneten Anspruches ihres jetzigen Arbeitslosengeldes!
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Ihr Buch mit der ISBN Nummer 978-3-446-26840-1 ist im guten Buchhandel erhältlich und kostet als gebundene Ausgabe in Österreich € 20,60. Natürlich ist es auch im ePub-Format zu haben.
Anna Mayr wurde 1993 in einer Mittelstadt am östlichen Rand des Ruhrgebiets geboren. In der Grundschule lernte sie die Fangesänge von Borussia Dortmund, am Gymnasium wurde ihr beigebracht, dass sie die Gegend am besten schnellstmöglich verließ. Sie studierte Geographie und Literatur in Köln, schrieb für eine Boulevardzeitung, arbeitete als Deutschlehrerin. Mit dem Team von Correctiv war sie 2018 für den Nannen Preis und den Reporterpreis nominiert. Heute ist sie Redakteurin im Politik-Ressort der ZEIT und lebt in Berlin.